~92. Seelischer Beistand~

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„Du warst aber nicht lange bei Kara.", stellte Yuno fest und legte den Kopf leicht schief, sodass ihr eine Haarsträhne ins Gesicht fiel.
„Kara möchte mich noch nicht sehen. Sie meinte, sie bräuchte noch Zeit.", versuchte ich zu lächeln, was eher gequält wirkte.
„Kann sie etwa schon sprechen?!" 

Verwundert sah ich Yuno an. 

„Ja. Sie musste nur etwas trinken, aber ich denke es ist anstrengend, weil ihre Stimme kratzig war und sie nur das Nötigste gesagt hat."
„Yuno, wir sollten nach Hause fahren.", unterbrach uns Sousuke. 

Sie stimmte ihm zu und die beiden nahmen mich freundlicherweise mit. Bevor ich ausstieg, bedankte ich mich und wünschte ihnen noch einen schönen Tag. 

Ich trat in den Flur ein und entledigte mich meinen Schuhen, dann ging ich in die Küche und machte mir etwas zu trinken. In der Flasche war nur noch ein kleiner Rest Flüssigkeit, aber ich wollte die Flasche nicht in den Müll bringen, also stellte ich sie einfach wieder zurück in den Kühlschrank. 

Gou war noch in der Schule und meine Mutter war noch arbeiten, aber sie sollte jeden Moment zurück kommen. Während ich wartete, surfte ich etwas im Internet und stieß auf zahlreiche Artikel, die Vermutungen aufstellten, dass Kara bereits gestorben sei, oder zumindest nicht mehr aufs Pferd steigen würde. In manchen Artikeln stand auch, dass sie sehr schlimm am Kopf verletzt wurde, aber in keinem stand etwas vom eigentlichen Problem, ihrer Essstörung, weshalb sie eigentlich bewusstlos wurde.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und gespannt sah ich zur Tür. 

„Hallo Brüderchen. Was machst du denn schon hier?"
„Kara wollte mich nicht bei sich haben, sie meinte, sie bräuchte noch Zeit, um sich zu sammeln."
„Woher willst du das wissen? Hat sie es dir etwa gesagt?"
„Ja."
„Im Ernst?! Ist sie wirklich wach?!"
„Ja."
„Wann kann ich zu ihr?"
„Sobald es für sie okay ist. Das heißt sobald ich wieder zu ihr kann, kann ich sie gerne fragen."
„Das ist toll." 

Ich nickte nur, stand auf und ging in mein Zimmer. Auf meinem Handy checkte ich meine Nachrichten, aber nachdem ich keine bekommen hatte, legte ich das Gerät zur Seite und starrte nur dumm an die Wand. 

Seit Kara wach ist, verspürte ich nicht das Glücksgefühl, mit dem ich eigentlich gerechnet hätte, stattdessen war ich in einer gefühlslosen Blase gefangen und konnte mich nicht wehren. 

Ich hörte jemanden wütend die Treppen hinauf stürmen, ehe jemand an meine Tür klopfte. 

„Hm?" 

Ich hob meinen Kopf und Gou riss die Tür auf. Unter ihrem Arm war eine Plastikflasche. 

„Wie oft sollen Mama und ich dir noch sagen, dass du die ganze Flasche leer trinken sollst und nicht immer den kleinen Rest drinnen lassen sollst. Das ist echt nervig.", wutentbrannt schmiss Gou mir die Flasche entgegen. 

Gekonnt fing ich sie mit einer Hand. 

„Tut mir leid. Ich werde das nächste Mal alles austrinken.", lächelte ich und mein Blick wanderte auf den Boden, während mein Lächeln verflog. 

Ich setzte die mittlerweile geöffnete Flasche an meinen Mund und trank den letzten Schluck, den ich übrig gelassen hatte. 

„Sag mal, warum bist du so betrübt. Freu dich doch, deine Freundin ist endlich wieder wach." 

Meine Schwester kam neben mich. Die Matratze sank ganz leicht unter ihrem Gewicht. 

„Es...es tut weh, wenn ihre ersten Worte sind, dass sie dich noch nicht sehen möchte." 

Meine Augen wurden nass und ich versuchte erfolglos die Tränen zurückzuhalten. Beruhigend legte mir meine Schwester ihren Arm um meine Schulter. 

„Rin. Ich denke, dass es völlig normal ist. Immerhin muss sie selbst erstmal darauf klar kommen. Sie hat die letzten Wochen, im Gegensatz zu dir, überhaupt nicht mitbekommen. Auch der Trubel, der um sie gemacht wurde, ging an ihr vorbei. Bestimmt ist alles gerade etwas viel für sie. Denk doch Mal drüber nach. Als sie quasi „einschlief", dachte sie noch du wärst mit deiner neuen Freundin in Australien und jetzt stehst du neben ihr und diese Freundin hatte es scheinbar nie gegeben. Kara ist ein taffes Mädchen, sie wird sich sicher bald wieder erholt haben und in der Gegenwart angekommen sein. Du musst nur noch etwas Geduld haben."
„Aber ich hab keine Geduld mehr. Ich will sie jetzt bei mir haben. Ich will ihren Geruch jetzt riechen, ihre Berührungen jetzt fühlen und ich will sie vor allem jetzt wieder lächeln sehen. Ich will ihr Lächeln wieder sehen, wenn sie ein Turnier gewinnt, oder wenn mir ihr Essen schmeckt, oder sie mir von ihrem Erfolg mit Akito im Training erzählt.", schluchzte ich und versuchte weiterhin meine Tränen im Zaum zu halten. 

Gou streichelte mir beruhigend über den Rücken. Einige Zeit sagte niemand von uns etwas. Scheinbar musste meine Schwester ebenfalls erstmal ihre Gedanken ordnen. Sie seufzte einmal tief, bevor sie leise zu sprechen begann. 

„Manchmal ist das was wir uns am meisten wünschen, das was wir am wenigsten haben können." 

Gous Stimme war nur ein Hauchen, so leise war sie, doch trotzdem verstand ich jedes Wort deutlich. Dieser Satz verankerte sich in meinem Kopf. Ich musste so viel darüber nachdenken, dass ich gar nicht merkte, dass ich mittlerweile zu weinen aufgehört hatte. Gou saß noch immer neben mir. Langsam wagte ich einen Blick neben mich. Meine Schwester saß einfach nur da und leistete mir seelischen Beistand. Ihr Blick fiel ins nichts. Scheinbar dachte sie gerade über etwas nach. 

„Hallo! Ich bin wieder zu Hause!", rief jemand durchs Haus. 

Wie in Trance bewegten sich meine Schwester und ich nach unten. Wir begrüßten unsere Mutter und halfen ihr beim Kochen, denn das lenkte uns etwas ab. Beim Essen selbst traute sich aber kaum jemand etwas zu sagen. Die Stimmung war gedrückt. Manchmal versuchte Mama etwas aus uns herauszubekommen, aber nachdem sie merkte, dass weder Gou noch mir nach sprechen zu mute war, ließ sie es bleiben. Ich war ihr sehr dankbar dafür. Mama wusste schon immer, dass ich kaum mit jemandem reden wollte, wenn es mir nicht gut ging. Dann gab sie mir die Zeit, die ich brauchte, bis es mir wieder besser ging.

Rin Matsuoka x OCHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin