2 - Eleanor

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ELEANOR

„Sie kennt mich und doch bin ich ihr fremd. Bin ein unbeschriebenes Blatt. Ein namenloses Gesicht. Sie sieht mich an und doch sieht sie vorbei. Ich lache ihr ins Gesicht und sage: Scheiß drauf.“

Kurz herrschte Stille in der Klasse. Keiner schien sicher zu sein, ob Clementine fertig war. Sie selbst bemerkte das komische Schweigen auch und sagte zu unserer Lehrerin: „Das war’s. Ich bin fertig, Miss O’Hara.“

Dann klatschten wir. Während Miss O’Hara auf ihre Zeilen einging, betrachtete ich das Mädchen, das bei der Tafel stand, genauer. Ihr Haar war rot. Wie Kirschen. Sie wirkte unfassbar klein und war so dünn, dass man meinen könnte, ein Windstoß würde genügen, um sie wegzufegen. Aber sie machte durch ihr Auftreten klar, dass man sich nicht mit ihr anlegen sollte. Ihre braunen Augen ruhten auf Miss O’Hara und sie zupfte an dem schwarzen T-Shirt herum, auf dem ein weißer Regenschirm gezeichnet war. Darunter stand in geschwungenen Buchstaben „bmth“.
Ich begann, auf meinem Block zu kritzeln.

Bitte, mach Tore heilig.

Brot mit Truthahn-Hals.

Bruder, Mama, tote Hüllen.

Bring mir tiefe Höhen.

Als das Mädchen neben mir zu sprechen begann, zuckte ich leicht zusammen. „Es gefällt mir. Ich glaube, wir alle fühlen uns manchmal so, als würde sich niemand für uns interessieren und das hast du gut beschrieben“, erklärte Palma mit ruhiger, leiser Stimme, doch ich konnte ihren Akzent trotzdem hören. Anscheinend hatte Miss O’Hara ihr eine Frage gestellt, sonst hätte sie sich kaum gemeldet.

Sie war eher still, so wie ich. Trotzdem hatte ich seit Beginn des Literaturkurses ein paar Dinge über sie herausgefunden: Vor vier Jahren war sie nach Beckshill gezogen, ihre dunkle Haut wies auf die afrikanische Herkunft hin, genauso wie ihr leichter Akzent. Wir sprachen nicht miteinander, wenn es sich vermeiden ließ, aber wenn wir für Projekte einen Partner brauchten, war sie meine Leidensgenossin. 

„Das ist doch totaler Quatsch“, meldete Dex sich aus der letzten Reihe. „Dass sie dich nicht kennen, ist dein Vorteil, Clem.“

Ich drehte mich zu ihm um. Da ich am Rand der Klasse, genau beim Fenster saß, war es nicht so auffällig, obwohl mein Platz in der ersten Reihe war. Dex schien mich nicht zu beachten. Aber er selbst wusste zu gut, wie er die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Allein mit seinem Aussehen, seinen Muskeln, den ungewöhnlich grünlichen Augen und seinem Siegerlächeln zog er sie alle in seinen Bann. Ich konnte nicht behaupten, dass mich das kalt ließ, aber ich wollte mir nichts vormachen. Was sollte so einer wie der schon mit jemandem wie mir? Außerdem lenkte sein Aussehen lediglich von den Fehlern ab, die er sonst so hatte. Er war unhöflich, gab oft unpassende Kommentare von sich und rauchte mehr als ein Schornstein.

„Wenn ich ein Ninja wäre, würde ich dir vielleicht zustimmen“, gab Clem trocken zurück.

„Bist du denn keiner?“, fragte er voller Sarkasmus und zog die Augenbrauen hoch.

Während die beiden diskutierten, wanderte mein Blick zu Noah und Maya, die in der zweiten Reihe saßen, sich angrinsten und Händchen hielten. Außerdem sah ich Phil zu, der direkt neben Dex saß, ihm scheinbar aber nicht zuhörte. Stattdessen warf er kleine Papierkügelchen in die zweite Reihe, direkt auf Nimy, die ihn ignorierte. Noch. Ihr Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie kurz davor war, aufzuspringen, sich mit ihren stolzen ein Meter sechzig – wenn überhaupt – vor ihm aufzubauen und ihn ordentlich in die Schranken zu weisen.

Schließlich folgte ich dem Gespräch von Clementine und Dex wieder. „Nein, ich bin kein Ninja, aber ich kann dir gern erklären, was ich mit Idioten wie dir tun würde, wenn ich einer wäre.“

„Ach ja?“

Miss O’Hara ergriff das Wort, bevor sie anfangen konnten, mit Schimpfwörtern und Beleidigungen um sich zu werfen. Wir kannten sie inzwischen alle gut genug, um zu wissen, dass sie damit nicht mehr lange auf sich warten lassen würden.

„Alles klar, meine Lieben!“, sagte sie schnell. „Danke auf jeden Fall für deinen Beitrag, Clementine. Alle anderen wissen ja Bescheid: Im Laufe der nächsten Stunden sollt ihr auch etwas vortragen. Entweder zu zweit oder alleine.“ Clementine ging zurück auf ihren Platz, der direkt hinter meinem war und ich drehte meinen Stuhl wieder nach vorne.

Doch Dex schien noch nicht fertig zu sein. „Wir könnten es ja mal zu zweit versuchen, Miss O’Hara“, schlug er vor und ich hörte, wie Phil leise lachte.

Ein Seufzen glitt über ihre Lippen, doch sonst ignorierte sie seinen Kommentar. „Ich würde sagen, wir machen mit Faust weiter. Eleanor, kannst du nochmal zusammenfassen, was wir schon gelesen haben?“

„Idiot“, zischte Clementine hinter mir, sie musste es zu Nimy gesagt haben und Dex damit meinen.

„Äh ja...“, murmelte ich. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich versuchte die richtigen Worte zu fassen, aber irgendwie entglitten sie mir immer wieder. „Also... Faust hat einen Pakt mit Mephisto... In dem er... Äh.“

Ich sah aus dem Augenwinkel wie Palmas gebräunte Hand mit einem Bleistift über das Blatt Papier kratzte, das vor ihr lag. GLÜCK GEGEN SEELE schrieb sie auf.

„Mephisto erfüllt Faust alle Wünsche und... wenn er es schafft, dass Faust glücklich wird, bekommt er seine Seele.“

„Danke.“ Miss O’Hara lächelte mich verständnisvoll an, bevor sie irgendetwas über Gott und Mephisto hinzufügte. Sie wollte, dass ich lernte, aus mir herauszugehen und manchmal hasste ich sie dafür.

Aber heute hatte Palma mich gerettet. Ich sah zu meiner Sitznachbarin hinüber und flüsterte: „Danke“, was sie mit einem Nicken quittierte.

Phil, der untypischerweise heute noch gar nichts gesagt hatte, fragte nun, ohne vorher aufzuzeigen: „Was bringt einem alles Glück der Welt, wenn es doch nicht anhält?“

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- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now