35 - Noah

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NOAH

„Reeve!", ruft jemand und als ich über die Schulter schaue, sehe ich, dass es Dex ist, der da meinen Nachnamen durch den Flur brüllt. Er geht schneller, beginnt zu laufen und schließt zu mir auf. Dann runzelt er die Stirn. „Hast du Phil irgendwo gesehen?"

„Nein. Wieso? Ist irgendwas passiert?" Da ist sie wieder, ganz laut, diese Stimme in meinen Kopf, die sich von null auf hundert Sorgen macht. Wie kann ich Phil helfen? Wo ist er? Geht es ihm gut?

Zunächst sagt Dex nichts. Sein Gesicht spricht allerdings ganz deutlich zu mir. Seine Augenbrauen sind eng zusammengezogen, der Kiefer angespannt und seine Mundwinkel deuten nach unten. Trotzdem versucht er, es abzutun. „Nein. Ich... Nicht so wichtig. Wenn du ihm vor dem Literaturkurs noch über den Weg läufst, dann schreib mir bitte."

„Und es ist wirklich nicht wichtig?", hake ich skeptisch nach.

Daraufhin stößt er ein amüsiertes Schnauben aus und legt eine Hand auf meine Schulter, während wir uns langsam wieder in Bewegung setzen. „Mach dir keinen Kopf, Reeve."

Leichter gesagt, als getan.

„Wir sehen uns nachher bei Miss O'Hara!", ruft er noch, als er bereits weiter durch die Schule joggt und mich hinter sich lässt.

Ich kann ein lautes Seufzen nicht unterdrücken. Aber ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken, gehe zum Musiksaal und hole meine Gitarre, die ich immer dort aufbewahre, weil in meinem Spind zu wenig Platz dafür ist. Musik ist genau das, was ich jetzt brauche. In meinen Freistunden ist mir die Gesellschaft meiner Gitarre meistens die liebste – zumindest wenn Maya, so wie heute, Spanischunterricht hat.

Nachdem ich auch noch meine Jacke aus meinem Spind geholt habe, gehe ich in den Pausenhof und setze mich auf eine der Holzbänke. Die Luft ist frisch, der Himmel grau, aber hell und ich weiß jetzt schon, dass meine Nase durch die niedrigen Temperaturen rot anlaufen wird. Doch das ist es wert.

Wie automatisch greifen meine Finger die nötigen Akkorde, die andere Hand streicht über die Saiten und ich weiß sofort: Das hier ist einer meiner Gründe, diesen Tag zu den guten zu zählen.

Well, it's a big big city and it's always the same", beginne ich zunächst zurückhaltend zu singen. Whistle for the Choir von The Fratellis – einer von Mayas Lieblingssongs. Meine etwas raue Stimme funktioniert auch ganz von alleine, der Text fließt wie Blut durch meine Adern und irgendwann vergesse ich ganz, wo ich bin. „And if you're crazy... I don't care, you amaze me-"

„Also... wenn du es sogar so ausdrückst... Darf ich mich dann setzen?"

„WAH!", kreische ich auf und verstumme danach vollständig, bevor ich begreife, was das war. „Verdammt, Clem! Musst du dich so anschleichen?" Mein Herz, das beinahe aus meiner Brust gesprungen wäre, hüpft weiterhin herum wie ein hyperaktives Kleinkind.

Beinahe schüchtern lächelt Clem mich an, während sie sich neben mir auf die Bank sinken lässt. Wir haben nicht mehr richtig geredet seit... meiner Standpauke an sie. Oops. Ich hab das in den letzten Tagen eindeutig verdrängt. Maya und ich haben zwar noch ausführlich über den Tod meines Opas und sogar über ihre Magersucht gesprochen, aber das Thema „Clem" haben wir dabei gekonnt ignoriert .

In diesem Moment wird mir zum ersten Mal richtig bewusst, wie oft ich Clem hängen lasse. Ich ziehe ihr Maya vor – so wie ich Maya so gut wie jedem vorziehe. Aber das Schlimme ist wohl, dass mir das bisher nicht wirklich aufgefallen ist. Wir haben uns in den letzten Jahren ziemlich voneinander entfernt und ich Idiot hab es nicht einmal bemerkt.

„Hör zu", beginnt die temperamentvolle Rothaarige nun. „Ich will mich nochmal entschuldigen." Sie presst die Lippen aufeinander. „Ich bin nicht gut in so was. Aber ich seh' ein, dass ich ein paar nicht so nette Dinge gesagt habe."

„Clem, du musst nicht-"

„Oh doch! Das muss ich. Ich weiß, dass ich an mir arbeiten muss, Noah. Sei nicht so naiv und mach' mal deine verdammten Augen auf. Ich bin vorlaut, respektlos und oft gemein – meistens nicht mal mit Absicht. Keine Ahnung, wieso ich so bin, wie ich bin, aber... Naja, ich hab viel nachgedacht in letzter Zeit. Und wenn ich irgendwas in meinem Leben hinkriegen will, ohne jeden, der mir wichtig ist, mit meiner Scheiße zu vergraulen, muss ich was ändern."

Sie schweigt. Ich schweige. Einige Sekunden lang starren wir beide auf die Gitarre auf meinem Schoß.

„Puh", mache ich dann aber, um irgendeine Reaktion zu zeigen.

„Ja, puh", wiederholt sie. „Also ist alles wieder einigermaßen gut? Sind wir, äh, wieder Freunde?"

Ich nicke sofort. „Klar."

Die Erleichterung ist bereits über mich hereingebrochen, als Clem ihre kleine Rede gehalten hat. Sie ist nicht sauer. Als hätte die Sonne die dicke Wolkendecke über uns durchbrochen, fühle ich eine komische Wärme in mir, die gleichzeitig das Gewicht der Welt von meinen Schultern gelöst hat. Es fühlt sich gut an. Meine Augen wandern gen Himmel, aber er ist und bleibt trostlos grau.

„Was ist bloß mit dir passiert, Clementine? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast dich verliebt", scherze ich und stoße mit meiner Schulter neckisch gegen ihre.

„Sehr witzig, du Pumuckl", murrt sie und funkelt mich mit hochgezogener Augenbraue an. Wenn Blicke töten könnten, würde dieser hier sogar Katzen mit all ihren sieben Leben in den Himmel befördern.

„Selber Pumuckl", gebe ich zurück und zupfe an einer ihrer roten Locken. Doch ich kann es einfach nicht sein lassen und muss unwillkürlich grinsen. „Also, wer ist es?"

„Ja ja, das wüsstest du wohl gerne." Auch sie grinst jetzt dämlich vor sich hin.

Moment.

Moment, Moment, Moment.

Verdammt, nein. Oder?

„Ich hab wirklich ins Schwarze getroffen, oder?", frage ich aufgeregt nach. Und dann – ich kann es gar nicht glauben. „Oh mein Gott. Wir kennen uns seit... so vielen Jahren, aber das ist glaube ich das erste Mal, dass ich sehe, wie du rot wirst." Mein Grinsen wird immer breiter, sodass ich schon ein Ziehen in meinen Wangen spüre, aber ich kann es einfach nicht unterdrücken.

„Du redest Müll." Stur verschränkt sie die Arme vor der Brust und ihr Blick ist wieder so eisig wie eh und je, doch ihre tomatenähnlichen Wangen verraten sie.

„Tu ich nicht."

„Doch, tust du. Halt einfach deine Klappe." Sie steht von der Bank auf und dreht sich zu mir um. „Ich glaub, ich hätte mir das mit unserer Versöhnung doch besser überlegen sollen."

„Nur weil du nicht zugeben willst, dass du-"

Erneut schneidet sie mir das Wort ab: „Noah! Muss ich dir dein Maul mit irgendwas stopfen? Bei all der Scheiße, die da rauskommt, wäre das wahrscheinlich nicht schlecht."

Ich halte inne und blinzle sie einen Moment lang nur verstört an. „Danke für das Kopfkino. Deinem Angebeteten gegenüber solltest du so was vielleicht lieber nicht erwähnen." Angewidert ziehe ich die Augenbrauen zusammen und kurz meldet sich ein kleiner Teil von mir und flüstert: Wenn du so weitermachst, vergraulst du sie nur wieder.

„Arsch", murrt sie und setzt sich in Bewegung. Ohne mich anzusehen, ruft sie wenig enthusiastisch: „Wir sehen uns bei Miss O'Hara."

„Ja!"

Dann geht sie, zieht die Tür, die zurück ins Schulgebäude führt, auf und dreht sich doch noch einmal zu mir um. Clem winkt mir – mit ihrem Mittelfinger – und lächelt.

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Ob Clem sich tatsächlich verliebt hat? Und vor allem - in wen? ;) Was meint ihr?

- liljaxxx & knownastheunknown - 

PS: Wir wünschen euch einen guten Start im neuen Jahr! <3 

Feuerwerkحيث تعيش القصص. اكتشف الآن