20 - Ace

314 36 44
                                    

ACE

In allen Dingen lässt sich etwas Schönes finden. Auch, wenn man es auf den ersten Blick nicht gleich bemerkt, bei genauerem Betrachten entdeckt man, wie besonders und einzigartig alles eigentlich ist.

Genau deswegen betrachte ich die Welt so gerne durch das kleine, schwarze Loch meiner Kameralinse. Wenn man alles vergrößern und heranzoomen kann, ermöglichen sich einem ganz neue Perspektiven. Selbst der langweiligste Mülleimer bekommt dann etwas Faszinierendes, was nur einmal mehr beweist, wie blind wir für die Wunder sind, die direkt vor unserer Nase liegen. Okay, nicht unbedingt ein Mülleimer.

Aber so wie er werden auch alle anderen Gegenstände erst dann wirklich interessant, wenn man sich die Zeit nimmt, sie eingehend und gründlich zu betrachten.

Vielleicht sehe ich deswegen alles mit anderen Augen. Weil ich auf Dinge achte, die anderen nicht einmal auffallen. Und vielleicht bin ich auch deswegen lieber mit meiner Kamera unterwegs als mit Menschen. Man kann sie ansehen und ansehen, vergrößern und vergrößern und heranzoomen - und trotzdem erkennt man nicht ihr wahres Gesicht.

Mittlerweile habe ich mich an die verwunderten Blicke gewöhnt, die mich nicht loslassen, sobald ich einen Raum betrete. Man sieht nun mal nicht jeden Tag einen 19-Jährigen, der immer noch nicht die Schule beendet hat und zusätzlich mit einer Kamera in der Hand durch die Gegend schlendert. Und obwohl ich es nicht mag, angestarrt zu werden, kann mich das nicht davon abhalten, ohne sie irgendwo hinzugehen.

Genauso wie heute, meinem ersten Schultag an der Redmayne Highschool in Beckshill. Ich habe mittlerweile so viele Schulwechsel hinter mir, dass ich nicht einmal mehr nervös bin. Wieder neue Kurse, wieder neue Lehrer, wieder neue Mitschüler. Es klingt alles neu, aber wenn man immer wieder das Gleiche neu erlebt, ist irgendwann auch das nicht mehr neu. Hast du das jetzt überhaupt selbst verstanden, Ace?

„Hey, du bist neu hier, oder?", spricht mich freundlich ein Junge mit roten Haaren und Brille an und hält mich somit davon ab, mir selbst einzugestehen, dass ich meine eigenen Gedanken nicht mal mehr verstehe. Ich bestätige mit einem Nicken seine Frage und lasse meine Finger vorsichtig über das kühle Metall gleiten, das ich in den Händen halte. Es ist schon ein Reflex geworden, dass ich meine Kamera besonders dann berühre, wenn ich mich daran erinnern möchte, niemandem etwas schuldig zu sein.

Ich muss nicht auf Fragen antworten, wenn ich nicht will. Ich muss nicht einmal hier sein und ich muss erst recht nicht freundlich sein. Ein wenig Freundlichkeit hat noch niemanden umgebracht, rügt mich meine innere Stimme, doch auch auf sie muss ich nicht hören. Ich muss auf niemanden hören. Alles, was ich tue oder sage, tue ich für mich.

„Du redest wohl nicht so gerne, was?", grinst der Junge mich an, wirkt jedoch kein bisschen verstimmt. Im Gegensatz zu dir, denke ich genervt, um mir nicht einzugestehen, dass ich ihn für seine Gelassenheit bewundere. Wäre ich er gewesen, hätte ich schon längst kein Wort mehr mit mir gewechselt. „Ist schon okay, ich habe früher auch nicht so viel geredet. Ich kenn das."

Leicht ziehe ich eine Augenbraue hoch. Es fällt mir schwer zu glauben, dass er mich kennt oder auch nur ansatzweise versteht. Trotzdem interessiert es mich nun, wie es dazu gekommen ist, dass er nun so offen und selbstbewusst sein kann. Kaum habe ich mir diese Frage gestellt, wird er auch schon von zwei dünnen, aber kräftigen Armen umschlungen und ein wirklich hübsches Mädchen gibt ihm einen kurzen Kuss. „Ich hab dich vermisst", flüstert sie ihm ins Ohr und die Liebe, die die beiden umgibt, ist beinahe mit Händen zu greifen. Erst dann entdeckt sie mich und ihre Wangen werden ein klein wenig rot.

„Oh, hallo. Ich habe dich gar nicht gesehen", murmelt sie, fasste sich jedoch schnell wieder. „Ich bin Maya, und du? Schöne Kamera, die du da hast." Beinahe ohne Luft zu holen, spricht sie auch schon weiter. „Bist du auch bei Miss O'Hara im Kurs für Literatur?"

Ich nicke wieder nur und nun ist mir klar, was den rothaarigen Jungen dazu gebracht hat, offener zu werden. Hätte ich so ein Mädchen an meiner Seite, wäre ich sicherlich auch nicht der komplett zurückgezogene Typ in dauerschwarzen Klamotten. Ich weiß, dass ich ihre Frage, wer ich bin, nicht beantwortet habe und das Erscheinen der Lehrerin hält mich auch davon ab, worüber ich nur allzu froh bin.

Mein Motto ist: schwarze Kleidung, keine Worte, nicht auffallen, wieder verschwinden. Bis jetzt bin ich noch an keinem Ort länger als ein halbes Jahr geblieben und ich weiß auch nicht, wann sich das ändern sollte. Die Zukunft kennen nur die Sterne, sagt meine Tante Roxy immer. Wer also weiß schon, wie lange ich hierbleiben werde? Wie lange würde es wohl dieses Mal dauern, bis herauskommt, dass etwas mit mir nicht stimmt?

In Gedanken versunken nehme ich überhaupt nicht wahr, dass der Rest des Kurses bereits in den kleinen, gelb gestrichenen Klassenraum gegangen ist. Gelb, was für eine Farbe. Wahrscheinlich wollen sie damit eine positive Einstellung bei den Schülern hervorrufen. Mich erinnert es jedoch nur an das Sprechzimmer von Lady Gascoigne, bei der ich heute Nachmittag wieder einen Termin habe. Dort wollen sie einem auch weismachen, dass mit ein paar Gelbtönen im Leben alles gleich viel heller scheinen würde. Was für eine Metapher. Hier im Literaturkurs bin ich sicherlich gut aufgehoben.

„Ace?", holt mich leise eine Stimme aus meinen Träumereien.

„Ähm, bitte?" Verwirrt blinzle ich die Frau vor mir an, die ich nach ein paar Sekunden als Miss O'Hara erkenne.

„Möchtest du dich nicht vorstellen?" Sie klingt überhaupt nicht genervt, eher lächelt sie mich sogar noch verständnisvoll an. Sind die hier etwa alle so scheiß freundlich?

Wieder spüre ich meine Kamera in der Hand und dieses vertraute Gefühl beruhigt mich. Es ist fast, als wäre sie ein Mensch, der hinter mir steht und mir immer dann, wenn die Wellen über mir zusammenzubrechen drohen, eine beruhigende Hand auf die Schulter legt. Oh Mann, Ace. Eines Tages wirst du wirklich noch verrückt.

„Ähm, ja. Also ich bin Ace." Einen Moment herrscht Schweigen in dem Kurs, dann fängt ein kleines Mädchen mit roten Haaren an, zu kichern.

„Der ist ja genauso verpeilt wie du, Nimy", lacht sie gerade laut genug, dass es wirklich jeder hören kann und zwickt das Mädchen neben sich neckisch in den Arm.

Als ich sie ansehe, fallen mir fast die Augen auf dem Kopf. Ich kenne diese Person mit den lockigen Haaren, die zu allen Seiten abstehen, und den vielen Sommersprossen im Gesicht.. Es ist dasselbe Mädchen, dem ich vor drei Monaten auf einer Party geholfen habe, ihren betrunkenen Freund auf einer Couch ins Schlafzimmer zu schieben. Nimy heißt sie also. Schöner Name.

Ich merke, dass sie mich ebenfalls erkannt hat und lasse meinen Blick schnell weiterwandern. In diesem Kurs haben sich anscheinend die verschiedensten Menschen zusammengefunden. Von Hautfarben ist von schneeweiß bis karamellfarben alles vergeben, die Haare gehen von blond über rot bis schwarz und sogar ein im Rollstuhl sitzender Junge ist dabei.

Anscheinend bin ich in der als Literaturkurs getarnten Selbsthilfegruppe gelandet. Wie passend.

----

Herzlich Willkommen, Ace! ^^ 

Erste Meinungen und Spekulationen zur weiteren Handlung sind natürlich auch immer willkommen ;)

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now