36 - Nimy

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NIMY

„Irgendetwas ist anders als sonst. Weißt du? Er ist da, aber irgendwie auch nicht. Selbst wenn er neben mir läuft und wir uns unterhalten. Manchmal habe ich das Verlangen, seine Hand zu nehmen und ihn mit aller Kraft zurück in die Gegenwart zu ziehen."

Nervös spiele ich mit den vielen kleinen Ringen an meinen Fingern und rede einfach weiter, ohne zu merken, dass Clem abwesend aus dem Fenster starrt und mir anscheinend kein bisschen zuhört.

„Weißt du, ich träume ja auch viel und bin schnell in einer anderen Welt. Aber Ace - bei ihm habe ich das Gefühl, er verschwindet in eine Welt, zu der ich keinen Zugang habe. Und in der er sich so schnell verlieren kann, dass er eines Tages womöglich gar nicht mehr zurückkommt."

Ich habe keine Kontrolle mehr darüber, was ich sage oder denke und wie ich sage, was ich denke. Deswegen vertraue ich auf Clem, dass sie das Chaos in meinem Kopf endlich mit ihrem bekannten Das-ist-doch-verquirlte-Scheiße-Ruf wieder in Ordnung bringt. Doch heute hat wohl selbst Clem einmal ihren Tag, an dem sie da und zugleich doch abwesend ist.

„Clem! Hörst du mir überhaupt zu?"

Verwirrt sieht sie mich an, als wäre sie tatsächlich in Gedanken gewesen und hätte nichts von dem mitgekriegt, was ich soeben gesagt habe.

„Ist doch alles scheiße." Sie kneift die Augen ein wenig zusammen, als würde sie grinsen, und einen Moment bin ich erleichtert. Bis mir nach weiteren fünf Minuten Reden auffällt, dass sie mir schon wieder nicht zuhört.

„Verdammt, Clementine! Was zum Teufel ist denn heute mit dir los?!"

„Seit wann haben wir denn die Rollen getauscht, dass du diejenige bist, die flucht? Dann darf ich doch zur Abwechslung auch einmal in meine eigene Welt abdriften, oder?", weicht sie mir aus und ihre Wangen färben sich leicht rosa. Oder ist das nur das Licht? Clem kann doch gar nicht rot werden - zumindest habe ich das immer für unmöglich gehalten.

„Wirst du etwa gerade rot? So richtig tomatenrot?"

Mittlerweile ist sie wohl vom Grad ihres Rottons nicht mal mehr eine Tomate, aber ein anderer Vergleich will mir einfach nicht einfallen. Vielleicht eine rote Ampel? Oder ein Verkehrshütchen?

„Quatsch, Rot besitze ich gar nicht in meinem Repertoire für Gesichtsfarben", redet Clem sich sofort raus und normalerweise würde ich sie jetzt weiterhin damit aufziehen, bis der Schultag vorbei ist. Aber heute ist eben kein normaler Tag und mir ist auf einmal nicht mehr nach Scherzen zumute.

„Ace besitzt auch kein Rot in seinem Repertoire. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt etwas anderes als Schwarz kennt." Ich flüstere fast und mein Herz zieht sich zusammen, als ich Ace' Bild vor Augen habe, wie er mit seinem blassen, schmalen Körper und nur schwarzen Klamotten an einen Baumstamm gelehnt im Gras sitzt.

Letztes Wochenende sind wir zusammen an einen See gefahren und haben einen ganzen Tag in der Natur verbracht – nur wir beide, das Zwitschern der Vögel und die Sonne in unseren Gesichtern. Nur ist das Ganze nicht halb so romantisch gewesen, wie es sich anhört.

Ace ist ständig Gedanken hinterher gehangen, die einen schmerzhaften Ausdruck auf seinem Gesicht hinterlassen haben und ganz egal, was ich auch versucht habe, ich habe es einfach nicht geschafft, diese Traurigkeit, die sich über ihn gelegt hat, abzuschütteln. Nach einigen Stunden ist auch meine Stimmung an dem Tiefpunkt angelangt - kurz gesagt, es war der totale Reinfall und ich habe Clem nicht einmal etwas davon erzählt. Weder von unserem Treffen, noch dem Augenblick im Park, als er mir gesagt hat, meine Sommersprossen würden tanzen. Und noch viel weniger habe ich ihr von meinem Verdacht erzählt, dass Ace sich umbringen wolle.

Ein weiteres Mal spüre ich diesen Stich in meinem Herzen, der erst dort ist, seit Ace in mein Leben hineingeschneit ist. Wie ein Wirbelwind, unberechenbar und wild, der alles mit sich reißt, wenn man sich nicht vor ihm in Sicherheit bringt.

Dabei möchte ich mich nicht einmal in Sicherheit bringen, ich möchte ihm so gerne helfen, ihn verstehen, in seine Welt eintauchen. Doch Ace blockt jeden weiteren Versuch der Nähe seit jenem Abend im Park ab und lässt mich einfach nicht mehr an sich heran.

Seit Tagen trage ich nun diese Gefühle mit mir herum und weiß einfach nicht, wohin mit all dem. Eigentlich wollte ich mich Clem heute öffnen und ihr alles über Ace und mich und unsere kleine, schwarze, traurige Welt erzählen, aber auch das erscheint mir nun nicht mehr ganz so passend. Phil, Phil würde es verstehen.

Ach, Phil.

Einen Moment lang ergreift mich eine so starke Sehnsucht nach ihm, dass mir fast die Luft zum Atmen wegbleibt. Clem bemerkt mein Zucken sofort und schaut mich auf einmal misstrauisch an, von dem vorherigen Rot ist nichts mehr in ihrem Gesicht zu sehen.

„Nimy, ist alles okay?"

Die Besorgnis in ihrer Stimme veranlasst mein Herz ein weiteres Mal dazu, sich zusammenzuziehen. Auch wenn Clem ganz oft ruppig und kalt wirkt, so weiß ich doch, dass sie sich mehr als jeder andere um mich sorgt. Und trotzdem hindert mich irgendetwas daran, ihr einfach alles zu erzählen, mich in ihren Armen zusammenzurollen und zu weinen, bis keine Tränen mehr in mir sind.

„Alles gut", behaupte ich mit bemüht fester Stimme und weil ich Clem kenne und sie mir das niemals abkaufen wird, stehe ich schnell auf und nehme meinen angebissenen Muffin mit, der mich vorwurfsvoll anzuschauen scheint. Nicht nach dem Motto „Wieso hast du mich nicht gegessen?", sondern eher wie „Warum sagst du ihr nichts?".

Mit schnellen Schritten laufe ich zum Ausgang der Caféteria und höre Clem noch meinen Namen rufen. Wenn sie wollte, könnte sie mich noch einholen, das wissen wir beide.

Doch sie lässt mich gehen und für einen Moment weiß ich nicht, ob ich ihr dankbar dafür bin oder es nur ein weiterer Stich in mein Herz ist.

Bis ich Palma und Eleanor sehe, die eng nebeneinander an die Schulmauer gelehnt stehen und aus vollem Herzen lachen. Als sie mich bemerken, verstummen sie abrupt und wischen sich unauffällig die Lachtränen aus den Augenwinkeln, so als wäre es ihnen peinlich, dass man sie einmal nicht schüchtern und in sich gekehrt erlebt hat.

Am liebsten würde ich zurück in die Caféteria rennen, Clem um den Hals fallen und einfach alles loswerden, damit ich wieder so lachen kann wie Palma und Eleanor gerade eben.

Aber ich senke nur verlegen den Kopf, als hätte ich die beiden bei etwas gestört, dass ich nicht hätte sehen sollen, und verlasse den Schulhof, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Dass ich weine, merke ich erst, als mich jemand am Fuß packt, ich mich der Länge nach auf den Bürgersteig hinlege und ich wenig später eine behandschuhte Hand an meiner Wange spüre, die mir die Tränen abwischt.

„Du siehst aus, als bräuchtest du mich mehr denn je", grinst mich ein im Gebüsch liegender Phil an, dessen Lächeln Bestürzung weicht, als ich mich nun endgültig in einen heulenden und rotzenden Wasserfall verwandle.

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- liljaxxx & knownastheunknown - 

FeuerwerkWhere stories live. Discover now