59 - Eleanor

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ELEANOR

Ich werde wach, als Mum meine Zimmertür öffnet, die ein ungewohntes, leises Knarzen von sich gibt. Mum weckt mich nur, wenn ich verschlafen habe oder so tue, als hätte ich es, damit ich nicht in die Schule gehen muss. Früher habe ich es öfter versucht, auch wenn ich genau wusste, dass sie nie zulassen würde, dass ich schwänze. Merkwürdig, dass die Schule seit ein paar Monaten erträglich genug ist, dass ich nicht einmal mehr daran gedacht habe, einfach hier liegenzubleiben.

Es klingt, als würde Mum sich bemühen, besonders leise aufzutreten, was mich wundert. Normalerweise müsste sie schon längst singend meinen Namen gesagt oder das Radio im Flur eingeschaltet haben. Ich blinzle ein paarmal und bekomme beinahe einen Herzinfarkt, als ich Palma in dem dämmrigen Licht erkenne. Dann fällt es mir wieder ein. Ich bin ja gar nicht zu Hause.

„Guten Morgen?", frage ich unsicher und richte mich im Bett ein wenig auf. Ich bin froh, dass es noch recht düster in unserem Zimmer ist, denn ich sehe bestimmt schrecklich aus. Auch wenn es mir vor Palma egal sein könnte – immerhin hat sie mich schon gesehen, als ich Rotz und Wasser geheult habe – ist es das nicht.

Merde. Ich wollte dich nicht wecken, tut mir leid." Sie bleibt zwischen unseren Betten stehen und scheint kurz nachzudenken. Ich frage mich, worüber. „Du kannst noch weiterschlafen. Es ist erst kurz vor fünf Uhr."

Ich ignoriere den letzten Teil. Obwohl ich müde bin, setze ich mich nun ganz auf und reibe über meine verschlafenen Augen. „Wie ist es denn gelaufen? Wart ihr die ganze Nacht unterwegs?"

Sie nickt und sieht mich an. Es ist egal, dass wir einander in der Dunkelheit so schlecht erkennen, irgendwie schaffen wir es trotzdem ohne Worte, dass ich ein Stückchen zur Seite rutsche und Palma sich direkt neben mir auf mein Bett sinken lässt. Ihre Beine krabbeln so selbstverständlich unter meine Decke, dass mein Herz hüpft. Wir starren an die Wand gegenüber von meinem Bett und halten für einige Sekunden inne, bevor sie zu reden beginnt.

„Phil war am Anfang nicht so begeistert, obwohl seine Mutter auf unserer Seite stand. Dex hat sie davor angerufen und gesagt, sie soll schon mal Phils Sachen packen, aber als wir angekommen sind, war die Stimmung so seltsam. Irgendwie eng? Kann man das sagen? Als gäbe es nicht genug Luft." Ein wahrer Wasserfall bricht aus der Dunkelhäutigen heraus, aber ich kann ihr leicht folgen. Es ist wie eine Gabe. Palma will man überallhin folgen, wenn sie spricht. „Ich habe nicht gewusst, was ich sagen soll, obwohl es mir normalerweise hilft und leichtfällt, meine Gefühle in Worte zu packen. Vermutlich hatte ich Angst." Sie sieht mich von der Seite her an und lächelt unsicher. Ich habe das Gefühl, gar nicht hier zu sein. Dieses Zimmer ist ein Paralleluniversum, in dem die Karten völlig neu gemischt worden sind. Wir sind einander so vertraut und doch fremd, während ich immer überzeugter werde, dass wir die letzten Menschen auf der Erde sind.

„Angst", beginne ich zögernd, „wovor?"

„Ich weiß es nicht so genau. Davor, das Falsche zu sagen, davor, ihn zu überfordern, davor, dass er mich anschreit, davor, dass er ein ganz anderer Mensch geworden ist, davor, ihn noch weiter in sein schwarzes Loch zu stoßen." Ich starre auf meine Finger. Palma hat so viel überwunden und doch hat sie diese durchschnittliche, menschliche Angst. Aber sie ist definitiv nicht wie der Durchschnitt. „Dex hat also das Reden übernommen und ich habe Phils Mutter beim Abwasch geholfen, weil ich es nicht mitanhören konnte. Ich konnte nicht zuhören, wie Phil seinem besten Freund Sachen an den Kopf wirft, die er früher nie gesagt hätte. Ich konnte ihnen nicht helfen, obwohl ich es so gerne wollte. Macht mich das zu einem schlechten Menschen?"

„Nein", meine ich knapp. Aber ich sehe ihr wieder direkt in die Augen. Mittlerweile habe ich mich schon an das düstere Zimmer angepasst. Ich erkenne die schönen, langen Wimpern und den feinen Bogen, den ihre Augenbrauen darüber bilden. Ich erkenne ihre Lippen, die sich zu einem schmalen Lächeln formen.

„Danke", ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. „Irgendwie will ich nicht mehr darüber reden. Wie war es denn bei euch? Haben wir irgendwas verpasst?"

Obwohl ich gerne wüsste, ob Phil jetzt tatsächlich hier ist, frage ich nicht. Palma braucht Ablenkung und alles in mir schreit danach, ihr zu helfen. Ich bin keine Rednerin, ich höre zu. Aber ehe ich mich versehe, fange ich an, von unserem Ausflug in die Bar zu erzählen. Ich wiederhole sogar die Geschichte von der Zeugin Jehovas und Palma sieht mich verwundert an, bevor sie zu lachen beginnt. Clems Enthüllung, von wegen sie habe Dex geküsst, lasse ich bewusst aus. Es ist eine Sache, die Palma von ihm hören sollte - falls sie es noch nicht weiß. Doch die Worte an sich kommen ganz von alleine; vielleicht liegt das auch an unserem kleinen Paralleluniversum. Ich fühle mich geborgen, wie in einem Nest, als ich erkläre, wie Nimy und Clem auf den Toiletten im Spaß vorgeschlagen haben, ein Messer zu holen, damit wir eine Sekte gründen und diese mit einem Blutschwur besiegeln können – nebenbei würden wir natürlich noch einen Dämon heraufbeschwören. Die Erinnerung an den bitteren Geschmack von Gin Tonic füllt meinen Mund aus, aber ich glaube selbst nicht ganz daran, dass die Geschichten, die ich von mir gebe, wahr sind. Sie fühlen sich an wie Märchen. Aber ich erzähle weiter.

„Und auf einmal hat Ace sich zu Nimy heruntergebeugt und sie geküsst. Damit hat wirklich niemand gerechnet, wir sind alle sofort verstummt. Sogar Clem stand der Mund offen, aber dann hat sie gegrinst und ist-"

Ich stoppe mitten im Satz. Palmas Kopf ist zur Seite gefallen und ruht nun auf meiner Schulter, ihre Haare kitzeln meine Haut und ihr rechter Arm schmiegt sich an meinen linken.

„Palma?", flüstere ich, aber es ist schon zu spät. Sie ist eingeschlafen. Wie lange sie mir wohl zugehört hat? Ich könnte mich ärgern, aber es ist mir egal. Irgendwie erleichtert es mich sogar. Ich habe ihr noch nie so viel an einem Stück erzählt, so viel von mir Preis gegeben, mich ihr so sorglos geöffnet.

Meine Augen schließen sich fast von selbst und ich lausche Palmas ruhigem, gleichmäßigem Atem. Es geht mir gut. Selten habe ich mich so normal gefühlt. Das ist es doch, was normale Menschen tun, oder? Normale Menschen haben Freunde. Normale Menschen reden. Normale Menschen freuen sich das ganze Schuljahr über auf eine Klassenfahrt, anstatt sich wochenlang im Voraus den Kopf zu zerbrechen, welche Ausrede man verwenden könnte, damit die eigene Mutter einen zuhause bleiben lässt und man nicht so viel Zeit mit Halbfremden verbringen muss, die einen sowieso nicht verstehen und die man selbst noch weniger versteht.

Mit einem Mal kommt mir dieser Ausflug noch merkwürdiger vor. Bin ich Teil dieser Gruppe, obwohl ich die wenigsten von ihnen kenne, geschweige denn, dass ich sie durchschaue?

Ich könnte nie so selbstsicher und temperamentvoll sein wie Clem; nie so träumerisch und weltoffen wie Nimy; nie so geheimnisvoll und interessant wie Ace; nie so hilfsbereit und glücklich wie Noah; nie so hübsch und perfekt wie Maya; nie so weise und tapfer wie Palma; nie so groß und stark wie Dex und nie so unglaublich lebensfroh wie der alte und nie so unglaublich verzweifelt wie der neue Phil.

Ich bin nichts davon, höchstens von ein paar Sachen ein bisschen. Aber vielleicht ist das ja okay, vielleicht muss ich das gar nicht sein. Dieser Ausflug gibt mir Hoffnung. Womöglich liegt es auch an Palma, die immer noch neben mir liegt und mittlerweile Träume träumt, die ich nicht sehe. Mit dieser Geste - der einfachen Tatsache, dass sie sich neben mich gesetzt hat; dass sie sich mit mir unterhält und sich wirklich zu interessieren scheint; dass sie mir nun so nahe ist - setzt sie eine kleine Pflanze in mir. Die Pflanze wird Wasser und Licht brauchen, bevor sie wirklich gedeihen kann, aber bereits jetzt erahne ich den Gedanken, der in mir aufkeimt.

Ich fühle mich, als wäre ich genug.

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Jeder hat es doch verdient, sich genug zu fühlen :)

Jetzt, da das Schuljahr für liljaxxx und mich vorbei ist (für mich sogar für immer), kommen wir hoffentlich auch häufiger zum Schreiben - der Vorrat an Kapiteln ist schon etwas...begrenzt xD

Habt ihr noch Schule? Falls ja bzw. wenn ihr arbeitet, dann wünschen wir euch noch eine erträgliche Zeit bis zu den wohlverdienten Ferien bzw. dem wohlverdienten Urlaub, der hoffentlich auch bald kommt!

- liljaxxx & knownastheunknown -

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