62 - Phil

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PHIL

Es gibt Tage, an denen einem recht einfache Sachen verdammt schwer fallen. Morgens die Augen zu öffnen, wenn man zur Schule muss, zum Beispiel. Oder jemanden zu grüßen, den man eigentlich kennt. Es sind ganz einfache Dinge, aber manchmal fühlt man sich wie gehemmt. Solche Tage hatte ich innerhalb der letzten Monate genug.

Gestern habe ich Dex angeschrien und ihn gebeten, mich einfach in meinem Zimmer verrecken zu lassen, aber geholfen hat das weder mir noch ihm. Ich hätte nur „Okay" sagen und nicht protestieren dürfen, dann wäre jetzt einiges leichter. In diesem Moment habe ich nicht einmal verstanden, wieso sich alles in mir dagegen gesträubt hat, einfach mitzukommen. Jetzt weiß ich allerdings, wovor ich Angst hatte. Ich bin mit dem gesamten Literaturkurs in Edinburgh und habe das Gefühl, sie alle sehen mich an wie Porzellan. Passt bloß auf, dass Phil nicht runter fällt, sonst bricht er noch!

Alles könnte leichter sein, wenn ich meinen Stolz ganz aufgeben und mir helfen lassen würde.

Doch ich will eigentlich bloß wieder der alte Phil sein. Der Klugscheißer, der dumme Witze reißt, Aufmerksamkeit liebt und von allen gemocht wird. Ich will es so sehr, aber es ist nicht einfach. So zu tun als hätte sich nichts verändert, ist dasselbe, als würde ich versuchen, ohne zwei ganze Beine zu laufen.

„Ich erwarte also, dass jeder von euch seinen Beitrag leistet. Immerhin wollen wir denen zeigen, was Beckshill so zu bieten hat, nicht wahr?", endet Miss O'Hara ihre kleine Ansprache, die ich wohl bei all dem Chaos in meinem Kopf ganz verschlafen habe.

Mein Blick wandert über unsere Runde. Offensichtlich bin ich der einzige, der nicht zugehört hat – wenigstens sieht es so aus. Eleanor und Dex nicken und Maya flüstert Noah aufgeregt ein paar Worte zu, während die anderen aufmerksam in Richtung unserer Lehrerin schauen.

Ich zögere kurz, beschließe dann aber, dass es nicht schaden kann, den Mund aufzumachen und zumindest für einen kurzen Moment so zu tun, als wäre alles normal. So unauffällig wie möglich lehne ich mich nach rechts und zische Nimy ein leise zu: „Hey, Sprossenkind. Ich hab' vielleicht gerade nur halb zugehört. Worum geht es denn?"

Mit ihren großen, blauen Augen sieht sie mich überrascht an und ihr Mundwinkel zuckt. „Erkläre ich dir später."

Plötzlich beugt Ace sich vor, um mich ebenfalls in Augenschein nehmen zu können. Seine Miene ist ausdruckslos, aber irgendetwas an seiner Haltung gibt mir das Gefühl, ich stehe auf dünnem Eis. Als wäre er jederzeit bereit, aufzuspringen und sich wie ein menschliches Schutzschild vor Nimy zu stellen, falls ich irgendetwas Dummes sage. In meinem Kopf macht es endgültig klick, als ich die Hände der beiden sehe. Ineinander verschränkt, ja beinahe verschmolzen ruhen sie auf der Tischplatte, sodass sie jeder sehen kann. Also entweder da hat sich etwas entwickelt oder sie haben ein Klebstoff-Missgeschick hinter sich. Was habe ich denn noch so verpasst, als ich gefehlt habe? Ich schlucke laut und bilde mir ein, dass man es in der ganzen Herberge hören kann.

„Wir treffen uns also gegen elf Uhr bei der Gästebühne, um die Reihenfolge durchzugehen. Haltet eure besten Texte bereit." Mit diesen Worten steht unsere Literaturlehrerin auf und verabschiedet sich. Die anderen erheben sich ebenfalls und fangen an, die Überreste des Frühstücks wegzuräumen.

Nur ich bleibe sitzen und versuche, nicht auf die makellosen Beine um mich herum zu starren.

„Also", wendet sich Nimy mir – nun mit deutlich lauterer Stimme – zu. „Es gibt eine eigene Bühne für Gastbeiträge auf der Messe und Miss O'Hara hat uns alle angemeldet, um da heute mitzumachen und Texte von uns vorzutragen. Um elf sollen wir dort sein, um das Organisatorische noch abzuklären und ab vierzehn Uhr beginnen wir. Eine Jury vergibt dann abschließend Preise für die besten Beiträge."

FeuerwerkWhere stories live. Discover now