3 - Palma

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PALMA

Sie sieht mich an und doch sieht sie vorbei.

Clementines Worte liefen auf Dauerschleife in meinem Kopf. Ich wusste selbst nicht so genau, was mich so sehr an ihnen faszinierte, doch irgendetwas war da, etwas Tieferes, das ich im Moment einfach nicht zu fassen bekam.

Beinahe entwich mir ein Seufzen, doch in letzter Sekunde konnte ich mich zurückhalten. Ich beteiligte mich nicht am Unterrichtsgespräch, solange man mich nicht dazu aufforderte. Was Miss O'Hara genau im nächsten Moment tat, als hätte sie gemerkt, dass Clem mit ihrem Vortrag etwas in mir zum Klingen gebracht hatte.

„Es gefällt mir. Ich glaube, wir alle fühlen uns manchmal so, als würde sich niemand für uns interessieren und das hast du gut beschrieben", meinte ich leise und schaute meine Lehrerin für Literatur unsicher an. Ich erntete ein ehrliches Lächeln als Dank für meine Antwort und entspannte mich kaum merklich.

Obwohl mein Englisch fast akzentfrei war und ich mit der Sprache gut zurecht kam, redete ich nicht gerne vor einer größeren Gruppe von Menschen. Ebenso wie Eleanor, die neben mir saß und die Miss O'Hara nach mir nun in die Zange nahm.

Vorsichtig und unbemerkt griff ich nach meinem Stift und kritzelte GLÜCK GEGEN SEELE auf meinen Block, sodass Eleanor einen Blick darauf werfen und die soeben gestellte Frage korrekt beantworten konnte.

Wieso ich das tat, wusste ich selbst nicht so genau. Normalerweise hatten wir nichts miteinander zu tun, obwohl wir Sitznachbarinnen waren und man meinen könnte, dadurch würden wir uns so gut verstehen wie Nimy und Clem in der Reihe hinter uns. Doch da Eleanor nicht viel redete und ich ebenso wenig, kamen zwischen uns nie wirklich längere Gespräche zustande außer „Hast du die Hausaufgaben gemacht?" oder „Kann ich dein Buch mitbenutzen?". Manchmal auch noch die Frage nach dem ein oder anderen Stift oder Stück Papier, aber ansonsten ließen wir einander eher in Ruhe. Sie lebte in ihrer Welt und ich in meiner und wir waren zufrieden damit.

Auch Eleanor schien überrascht, dass ich ihr geholfen hatte, und flüsterte ein leises „Danke", woraufhin ich nur mit dem Kopf nickte, als wäre es nichts gewesen.

Für die meisten wäre es das wohl auch, doch für mich hatte sich etwas verändert. Ich spürte ein Gefühl, das ich lange nicht mehr gespürt hatte, seit meine Mutter mich und meine beiden Schwestern in diesen Ort geschickt hatte, in dem wir niemanden gekannt und kein Wort verstanden hatten.

Zufriedenheit. Ich hatte jemandem geholfen und meine kleine Welt verlassen, hatte begonnen, die Menschen um mich herum wahrzunehmen. Das war so neu für mich, dass ich mich sofort wieder in mein Schneckenhaus zurückzog und für den Rest der Stunde kein einziges Mal mehr aufblickte.

Nach Unterrichtsschluss setzte ich mich auf das alte, verrostete Fahrrad von meiner Tante Nina, bei der meine Schwestern und ich seit vier Jahren lebten und die eigentlich nicht unsere wirkliche Tante war, jedoch darauf bestand, dass wir sie so nannten, und radelte in das kleine Café, in dem ich nachmittags nach der Schule jobbte. Kaum hatte ich den Laden betreten, strömte mir der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee entgegen und sofort fühlte ich mich ein wenig zu Hause.

Einer der Gründe, weshalb ich bei Jack, dem das Café Just chill gehörte, arbeitete, obwohl Nina immer wieder sagte, ich müsste ihr kein Geld dafür geben, dass sie uns bei sich wohnen ließ. Ich tat es nicht nur wegen des Geldes, sondern um nicht zu vergessen, wie es sich angefühlt hatte, als die Welt noch in Ordnung war.

Vier Jahre waren es mittlerweile her, dass meine Schwestern Tali und Nali mit mir zusammen nach Beckshill gekommen waren. Eine Ewigkeit, die wir nicht mehr in Mali waren oder Bambara gesprochen hatten, unsere Stammessprache. Obwohl die offizielle Amtssprache dort Französisch war, ohne deren Kenntnisse man keinen Zugang zu höherer Bildung bekommen konnte, hatte jedes Volk in Mali noch seine eigene Sprache so wie etliche verschiedene Dialekte.

Doch niemand wurde deswegen verurteilt, so lautete das oberste Gebot. Ganz egal, welchen Dialekt man sprach oder welchem Stamm man angehörte.

Manchmal fehlte mir das hier in dem eintönigen Beckshill. Diese Wärme und Herzlichkeit der Malier und die Offenheit, die man der Welt dort entgegenbrachte.

Unsere Mutter, die wir liebevoll Amadou genannt hatten, was in etwa „die Person, die man liebt" bedeutet, hatte Tali, Nali und mich ganz nach dem malischen Glauben erzogen, dass man allem auf dieser Welt mit Liebe begegnen sollte.

Diese Liebe trug ich immer noch in meinem Herzen, doch seit Amadou ein halbes Jahr nach unserer Ankunft in Großbritannien von den Tuareg-Rebellen getötet worden war, hatte ich sie in mir eingeschlossen und bewahrte sie auf wie einen gut gehüteten Schatz. Nur hinter meinem rechten Ohr sah man noch ein offensichtliches Zeichen dieser Liebe; ein Palmentattoo, das ich mir von Amadou hatte stechen lassen, bevor wir unsere Reise in eine andere Welt begonnen hatten. „Un petit palmier pour ma petite fille", hatte sie liebevoll gesagt, während sie mir die Haare zusammenband. Sie fehlte mir so sehr, dass es wehtat, daher versuchte ich, ihre Abwesenheit zu verdrängen. Manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Erfolg.

Just chill war somit sowohl mein kleines Zuhause, als auch ein Stich in meiner Brust, der mich ständig an ihre Abwesenheit erinnerte. Trotzdem konnte ich nicht aufhören hierherzukommen, mir die roséfarbene Schürze umzubinden und die Gäste zu bedienen, die sich an die kleinen Holztische mit den gestickten Deckchen setzten. Hier konnte ich die Palma sein, die ich sonst nicht sein konnte. Die lächelte, sich mit Gästen unterhielt und von ihrer wunderschönen Heimat erzählte. Die Witze riss und die Menschen zum Lachen brachte.

All das, was ich in der wirklichen Welt nicht mehr war, weil es sich wie Verrat an Amadou anfühlte. Und an Mali, an meiner Herkunft, an allem irgendwie. Als Außenstehender konnte man das nicht verstehen, doch für mich war es ganz klar. In der Schule war ich da, wurde aber nicht wirklich gesehen. Ich fiel auf mit meiner anderen Hautfarbe, meinem Akzent, doch noch nie hatte mich jemand gefragt, wie es mir hier ging. Ob es mir gefiel, ob ich meine Heimat vermisste oder gar nach dem Grund, wieso ich hier war.

Außer in diesem kleinen Café nahm mich niemand als wirklichen Menschen wahr, der doch nur dazugehören wollte.

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- liljaxxx & knownastheunknown - 

FeuerwerkWhere stories live. Discover now