38 - Phil

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PHIL

Es ist egal, dass ich mir in letzter Zeit immer öfter wünsche, mich in Luft aufzulösen. Nimy, das Sprossenkind mit schöneren Locken am Kopf als jeder Pudel, lässt man nicht einfach so an sich vorbeilaufen, wenn sie weint. Nein. Man packt ihren Fuß, sodass sie hinfällt und mit dem Gesicht über den Asphalt schlittert – gut, so schlimm war es glücklicherweise nicht.

„Komm", zische ich ihr aus meinem Gebüsch zu. „Sie dürfen uns nicht finden. Wir sind jetzt Geheimagenten." Dann rolle ich mich zur Seite, sodass der Strauch mich wieder ganz verdeckt und auch für Nimy genug Platz ist, um hineinzukrabbeln.

„Phil, was zum..." Sie schnieft, seufzt und folgt mir schließlich auf allen Vieren.

„Das hier ist unser Geheimversteck, okay? Von hier aus planen wir unsere supergeheime Mission zur der Rettung der Welt. Wir sind die letzte Hoffnung der Menschheit, Nimy!" Ich setze mich auf, packe ihre Schultern und schüttele sie kräftig durch, während ich sie anstarre, als wäre ich soeben aus einer Anstalt ausgebrochen. Abgesehen von einem Zucken in ihrem Mundwinkel bleibt ihre düstere Miene jedoch unverändert.

„Was machst du bitte hier in diesem Gestrüpp?", fragt sie dann mit gerunzelter Stirn.

„Ich bin-"

„Ein Geheimagent?", unterbricht sie mich genervt. Ich muss nicht Gedanken lesen können, um zu wissen, dass sie jetzt keine Nerven für den Unfug vom alten Phil hat.

Ich schlucke meinen Stolz hinunter, vergesse den Blödsinn, mit dem ich sie aufheitern wollte und schaue an Nimy vorbei. „Okay. Ich schätze, ich hatte vorhin einen kleinen... Ausraster. Hab' jetzt Zeit für mich gebraucht." Die letzten Worte nuschele ich nur so vor mich hin. Irgendwo, wo mich keiner findet und wo ich ohne Rollstuhl hinkrabbeln kann.

Das Sprossenkind nickt und ich kann aus dem Augenwinkel sehen, dass sie am ganzen Leib zittert. Sie sagt nichts und ich schließe mich ihr an.

Es ist eiskalt und die Erde unter uns ist so schlammig, dass ich meine Klamotten nachher vermutlich in den Müll schmeißen kann, aber zumindest sind wir hier vom schneidenden Wind und vor den Blicken der anderen abgeschirmt. Ich mustere Nimy, deren Aufmerksamkeit nun dem Geäst über uns gilt. Was ihr wohl schon wieder durch den Kopf geht? In ihrem Haar hängen ein kleiner Zweig, mindestens zwei Blätter dieses Was-auch-immer-Strauchs und bestimmt auch ein paar Käfer. Rote Nase, blasse Lippen, Dreck unter den Augen – oder war das mal Makeup?

Ich beiße mir auf die Lippe. „Du kannst immer noch mit mir reden, das weißt du, oder?"

Als wäre sie gerade erst aus einem See aufgetaucht, richtet sie ihre Augen ganz plötzlich auf mich. „Ich glaube, Ace will sterben."

Als du Luft geholt hast, hast du mir meine geraubt, Nimy Darrell.

Ein komisches Dröhnen füllt meinen Kopf aus, eine Art Vibrieren, aber doch irgendwie von innen ausgehend. Weitere Tränen füllen Nimys Augen. Mein Hals lässt immer weniger Luft durch. Auf einmal muss ich wieder an meinen Traum denken, von den ich mit Doktor Murray in der letzten Therapiestunde erneut durchgekaut habe. Da war Nimy. Wir sind gerannt, unser einziges Ziel war der Horizont. Als ich aufgewacht bin, wollte ich einfach nur sterben.

Die Erinnerungen in meinem Kopf verschwimmen - wenig später bin ich ihm sogar begegnet.

Ace. Der Fahrstuhl. Das Therapiezentrum.

Ohne weiter nachzudenken, schließe ich meine Arme um Nimy. Selbst wenn ich gerade ein Wort rausbringen könnte, denke ich nicht, dass es ihr helfen würde. Ich frage nicht, wieso sie denkt, dass Ace sterben möchte. Ich frage nicht, ob sie mehr dazu sagen möchte. Ich frage rein gar nichts und als sie ihren kleinen Körper an mich schmiegt, bilde ich mir ein, ihr Herz rasen zu hören.

So sitzen wir hier. Schweigend unter einem großen Busch. Mein Rollstuhl so unauffällig wie möglich unter einem Baum daneben. Wir sind beide in unserer eigenen Welt, aber doch irgendwie gemeinsam. Während alle anderen – vor allem Dex, Palma, Clem und Ace – wahrscheinlich im Literaturkurs sitzen und sich fragen, wo wir stecken.

Wir sind Geheimagenten, denke ich. Sie können uns nicht finden.

***

„Ich hol dich in einer Stunde wieder von hier ab."

„Bis dann, Mum." Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn, wuschelt mir durch die wirren, unfrisierten Haare und winkt noch, während sie weggeht. Ich verstehe, dass sie sich Sorgen macht. Welche Mutter würde das nicht, nachdem ihr Sohn einen Autounfall hatte, bei dem er sterben hätte können? Trotzdem bin ich der Meinung, dass sie es etwas übertreibt – immerhin findet die Therapie in einem stinknormalen Besprechungsraum statt, in dem ich mich nicht einmal verletzen könnte, wenn ich es wollte.

„Schön, dich zu sehen, Phil", sagt Doktor Murray, nachdem ich durch den Flur und in sein Zimmer gerollt bin.

„Hallo", murmele ich etwas verlegen. Obwohl ich hier keine Noten oder so bekomme, fühlt es sich doch seltsam an, meine „Hausaufgaben" nicht gemacht zu haben. Ich rechne fast mit einer Standpauke, auch wenn es lächerlich ist. Kein Therapeut sollte einen dafür fertig machen, wenn man sich nicht in der Lage fühlt, etwas zu tun – zumindest kein guter.

„Weißt du was, ich habe beschlossen, wir machen heute etwas ganz Neues." Doktor Murray hält inne und beobachtet meine Reaktion haargenau aus seinen dunklen Augen. Als nichts von mir kommt, fährt er fort, ohne irgendein Zeichen von Enttäuschung. „Erstens werde ich dich nicht fragen, wie es mit deinem Notizbuch für gute Momente in dieser Woche gelaufen ist – das, was du dort niedergeschrieben hast, sollte ganz dir allein gehören." Er räuspert sich, wobei mir einmal mehr seine unheimlich tiefe Stimmfarbe auffällt. Ein kleiner Teil von mir seufzt erleichtert auf, weil er nichts von meinen nicht existierenden Notizen wissen will. „Zweitens werden wir heute jemanden besuchen. Was hältst du davon?"

„Wen denn?", frage ich so lustlos wie nur möglich. Ich will gar nicht erst, dass Doktor Murray denkt, ich sei aufgeregt. Jede Art von Erwartungen, die er an mich stellt, ist für mich wie ein Knoten im Magen, den ich unmöglich entwirren kann.

Ein freundliches Lächeln legt sich auf seine Lippen. Dann steht er auf. „Lass es uns herausfinden."

Doktor Murray geht voraus, öffnet die Tür und ich setze mich etwas zaghaft in Bewegung. Mein Blick ruht abwartend auf ihm, aber ich sage nichts.

„Komm schon, Phil. Du wirst es nicht bereuen."

Also gehen – und rollen – wir durch den Flur. Doktor Murray, ich und eine böse Vorahnung, die auf meinen Schultern sitzt und mich immer tiefer in den Kunstledersitz meines Rollstuhls drückt. Keine Ahnung, woher sie kommt oder was sie bedeutet. Ich habe einfach kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Wen sollte ich schon besuchen?

Ich verpasse beinahe, dass der dunkelhäutige Mann neben mir anhält und rolle ein Stückchen zu weit, an der unscheinbaren, weißen Tür ohne Beschriftung vorbei.

„Hier sind wir schon", brummt er und ich kämpfe gegen die Angst an.

Wenn sich hinter dieser Tür ein schwarzes Loch befindet, dass mich verschluckt und wenn da drinnen meine Haut anschwillt und ich ersticke, weil es keinen Sauerstoff gibt, dann wundert es mich nicht. Mein Mund ist trocken, mein Puls etwas höher als er sein sollte, aber ich will nichts erwarten. Ich bin sauer. Wenn es nach mir und nicht nach meinem Bein ginge, würde ich aufspringen und einen Sprint durch die ganze Stadt hinlegen, um diese Wut abzubauen. Wieso kümmert mich diese blödsinnige Therapiestunde überhaupt?

Ein Klopfen bringt den roten Faden in meinem Kopf zum Reißen. Doktor Murray öffnet die Tür und zunächst sehe ich nur einen weiteren Besprechungsraum, der so ähnlich aussieht wie meiner, abgesehen davon, dass dieser hier etwas größer ist.

Mein Therapeut blickt aufmunternd zu mir herab. „Nach dir."

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Wer das wohl sein mag? 

- liljaxxx & knownastheunknown -

PS: Ihr dürft mich wieder einmal steinigen, weil ich den Freitag (warum auch immer) verpasst habe. Das ist ganz allein meine (knownastheunknown) Schuld :')

FeuerwerkWhere stories live. Discover now