6 - Clementine

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CLEMENTINE

„Alles klar, Mädels. Das war’s für heute, aber denkt daran: In zwei Wochen haben wir das Spiel gegen die Mannschaft aus Leighton. Da will ich euch alle in Höchstform sehen!“ Mit diesen Worten entließ meine Basketballtrainerin mich und die anderen aus der Sporthalle. Keuchend, da ich gerade noch über den braunen Linoleumboden gerannt war, ließ ich mich von der Menge mit in die Umkleiden ziehen.

Zweimal die Woche kam ich abends ins Schulgebäude, um meine Energie im Basketball abzubauen. Und, heilige Scheiße, ich liebte es. Das Beste daran war wahrscheinlich sogar, dass ich mit meinen stolzen ein-Meter-einundsechzig allen Basketballklischees der Welt widersprach. Die anderen Teams erwarteten natürlich, dass sie mich mit meiner bescheidenen Größe mühelos über den Haufen rennen konnten – aber das würde ich nie mit mir machen lassen. Ich war schnell. Treffsicher. Und ein guter Teamplayer. Anfangs waren die anderen im Mädchenteam von Beckshill auch skeptisch, aber wenige Probespiele später vergaßen sie ihre Bedenken.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, warf ich einen kurzen Blick in den Spiegel und richtete meinen dunkelroten Zopf. Ein kleines Lächeln zierte meine Lippen, da ich immer noch voller Adrenalin war. Obwohl es sich heute nur um ein einfaches Trainingsspiel gehandelt hatte, versuchte ich immer, mein Bestes zu geben. Ich rief ein allgemeines „Tschüss“ in die Runde und stopfte mein Zeug in meine Tasche. Kurz verstummte das Getratsche der andern Mädchen, das ich meistens einfach ausblendete, und sie erwiderten die Verabschiedung.

Ich kramte noch mein Handy und die Kopfhörer aus meinem kleinen Rucksack, bevor ich mit den wundervollen Klängen von Bring Me The Horizon im Ohr nach Hause spazierte. Freitags – also auch heute – hatten wir immer recht spät Training, also war es bereits dunkel, aber die Nacht war angenehm lau und meine Beine schienen mich mühelos zu tragen. Ich ging sicher eine halbe Stunde, aber es störte mich nicht.

Wie immer führte mich mein Weg auch am Just chill vorbei und ich wurde ein wenig langsamer. Neugierig blickte ich durch die Fenster, vorbei an den blassen Vorhängen, und entdeckte tatsächlich jemanden, den ich kannte. Verdammt, Dex sieht ja richtig scheiße aus. So viel konnte ich von hier draußen nicht erkennen, aber seine braunen Haare waren ein einziges Chaos und seine Haut, die sonst, weiß Gott wie, immer einen perfekten Teint hatte, wirkte fast grau. Normalerweise würde ich wohl so was sagen wie „Geschieht dem Wichser nur recht“ und mich über ihn lustig machen. Aber als er seinen Kopf am Tisch ablegte und leicht zu zittern begann, packte mich eine komische Art von Mitleid.

Verdammt.

Ich war drauf und dran, da jetzt hineinzustapfen und ihn zu fragen, was los war. Irgendwie hoffte ich sogar, dass ich endlich irgendeinen Grund dafür finden würde, dass er sich immer wie ein Arsch verhielt. Oder konnte man einfach so ein absolut rücksichtsloser Mensch sein? Jetzt gerade wirkte er unglaublich verloren – oder er hatte einen ziemlich harten Rausch. Was um einiges wahrscheinlicher war.

Bevor ich mich jedoch in Bewegung setzen konnte, um ihn zu konfrontieren, sah ich Palma durchs Fenster. Sie murmelte irgendetwas und sah ihn besorgt an, bevor sie einen Schokodonut neben der Kaffeekanne vor ihm abstellte. Ich wusste, dass sie hier arbeitete, dachte aber nicht, dass sie so nett zu Dex wäre. Kannten die beiden einander besser als es sonst immer den Anschein hatte?

Ich spürte ein komisches Ziehen in meinem Bauch, das sich irgendwie nicht nach Hunger anfühlte, und auf einmal kam es mir dumm vor, da jetzt reinzugehen. Was interessierte mich Dex Keighley schon? Er war ein arroganter Volltrottel. Ohne noch einmal einen Blick auf ihn zu werfen, drehte ich mich um und lief endlich nach Hause.

***

Unglaublich.

Absolut verdammt scheiße behindert unglaublich.

Am nächsten Morgen sollte ich eigentlich meiner Mum helfen, eine neue Couch für unser Wohnzimmer auszusuchen. Ich hatte sie allerdings vor wenigen Minuten irgendwie dazu überredet, uns beiden einen Kaffee aus dem Just chill zu holen, das sich in derselben Straße wie das kleine Möbelhaus befand.

Und nun stand ich hier genau wie gestern und schüttelte meinen Kopf, denn der verfluchte Dex Keighley hatte sich wahrscheinlich kaum einen Millimeter bewegt, seit ich letzte Nacht hier am Fenster gestanden war. Okay, er schien jetzt wenigstens wach zu sein, aber trotzdem verharrte sein dämlicher Arsch immer noch auf demselben Sitz. Heute drückte ich voller Entschlossenheit die Eingangstür auf und nickte Onkel Jack zu, der hinter der Kasse stand.

„Na, gut geschlafen?“ Ich konnte es einfach nicht lassen und klopfte Dex auf die Schulter, während ich ihn schadenfroh angrinste. Dunkle Augenringe zeichneten sich in seinem Gesicht ab und er roch nach einer Mischung aus Zigaretten, Alkohol und ein wenig Schweiß. Na lecker.

„Verpiss dich, Clem“, grummelte er und rieb sich über die Augen.

Einfach, um ihn zu ärgern, ließ ich mich auf den Sessel neben ihm plumpsen. „Ach. Wo ist denn unser kleiner Sonnenschein hinverschwunden? Ich hab dich charmanter in Erinnerung.“

Er seufzte. Als hätte er alle Zeit der Welt, zog er eine Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche. Nachdem er festgestellt hatte, dass sie leer war, seufzte er noch einmal. Dann sah er mich aus seinen grünlichen Augen eindringlich an. „Was willst du?“

„Kaffee.“

Wie aufs Stichwort tauchte im nächsten Moment Palma auf und strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr, bevor sie sich räusperte und ein Lächeln aufsetzte. „Kann ich dir was bringen? Oder reicht dir deine bezaubernde Gesellschaft?“

Verblüfft riss ich die Augen auf. Was war das denn? Palma konnte sprechen? Also... SO? Sie war doch sonst immer so ein schüchternes, ängstliches Ding, das alles tat, um nicht aufzufallen.

Dex bemerkte meine Verwunderung über Palmas sarkastische Wortwahl und schmunzelte. “Bist wohl auch etwas geschockt, dass unser kleines Mauerblümchen auch mal zubeißen kann, was?” Er gab ein glucksendes Geräusch von sich, als Palma die Augen verdrehte und irgendwie war ich genervt. Seit wann zum Teufel verstanden sich die beiden so gut? Palma würde sich nur Schwierigkeiten einbrocken, wenn sie sich mit Dex abgab. Er war ein Arsch - hab ich das eigentlich schon erwähnt? Vermutlich nicht oft genug.

Ich ignorierte Dex’ Kommentar und wandte mich ganz Palma zu. „Oh, glaub mir. Ich verzehre mich natürlich jede Sekunde meines Lebens nach Dex“, gab ich so übertrieben wie möglich von mir und Palmas Mundwinkel zuckten. „Allerdings bin ich eigentlich wegen zwei Bechern Cappuccino hier. Zum Mitnehmen, wenn's geht.“ 

„Kommt sofort. Und pass auf, dass dir der hier nicht wieder einschläft“, meinte sie mit einem leichten Akzent, den ich nicht zuordnen konnte.

„Ich hab' dich gestern schon hier gesehen“, gab ich schließlich zu, als mein Blick wieder auf dem Jungen ruhte. „Warst du wirklich die ganze Nacht hier?“ Es war zwecklos zu leugnen, wie neugierig ich auf einmal war. Und klar, ich erwartete nicht unbedingt, dass Dex mir jetzt sein Herz ausschütten würde – immerhin mochten wir einander nicht einmal. Im besten Fall ignorierte ich ihn und er mich. Dennoch erhoffte ich mir in diesem Moment eine Erklärung.

„Stalkst du mich?“ Er nahm einen Schluck von seiner Tasse und schien immer wacher zu werden. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber plötzlich klang sogar seine Stimme tiefer und automatisch wieder selbstbewusster. „Hör zu. Ich fühle mich ja geschmeichelt, dass du dir so viele Gedanken über mich machst, Clem. Aber ich steh' nicht so auf Emobräute.“

„Da will man einmal nett sein...“ Ich hob entwaffnend die Hände in die Höhe. „Aber gut. Und nur zu deiner Info: Ich würde eher mit Palma durchbrennen, als deine Emobraut zu werden.“

Ein kleines Grinsen setzte sich auf seine Lippen, die blass aussahen. „Machst du für mich ein Video von eurer Hochzeitsnacht?“

„Aber sicher doch, du perverser Spinner.“

Palma kam mit zwei Pappbechern an unseren Tisch und ich stand auf, um sie entgegenzunehmen. Voller Überzeugung und mit strahlendem Lächeln verkündete ich: „Der liebe Dexter hat gesagt, dass er mich heute einlädt.“ Dann zog ich auch schon die Holztür auf, die nach draußen führte.

„Sonst noch Wünsche?“, rief Dex mir hinterher.

„Ja“, gab ich ohne zu zögern von mir. „Werd' bitte ein besserer Mensch.“

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- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now