53 - Nimy

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NIMY

Es verblüfft mich jedes Mal aufs Neue, wie sehr wir immer glauben, jemanden zu kennen, aber eigentlich nicht das kleinste Bisschen von ihm wissen. Wieso stecken wir Menschen so schnell in Schubladen? Haben wir vergessen, dass bei uns auch oft Socken und Unterhosen zusammen in einer landen? Dass nicht jeder seine eigene Schublade hat und man diese auch mal wechseln kann?

Bei Ace würde ein ganzer Schrank voller Schubladen nicht ausreichen, um ihn in irgendeine Kategorie einzuordnen. Seit heute Morgen sind wir gemeinsam unterwegs gewesen und mein Kopf rauscht noch von den ganzen Eindrücken, die ich gesammelt habe. Der Bücherwurm in mir hat sich genüsslich im Dreck gesuhlt bei den vielen Möglichkeiten, bekannte Autoren kennenzulernen und sich Exemplare signieren zu lassen, während Ace neben mir sich wohl eher in seinen düsteren Gedanken gewälzt hat. Manchmal muss ich wirklich gegen das Bedürfnis ankämpfen, ihn unter die Dusche zu zerren und die Duschbrause einfach so lange auf seinen Kopf zu halten, bis diese ganze Traurigkeit aus ihm herausgeflossen kommt und zusammen mit seinem Selbsthass im Abfluss verschwindet. Wenn es doch nur so einfach wäre.

Eine sanfte Berührung an meiner Schulter bringt mich dazu, aus meinem Gedankenmeer aufzutauchen und Ace anzusehen, der mir einen flehenden Blick schenkt.

„Können wir jetzt bitte etwas essen gehen? Mein Bauch grummelt schon vor Hunger."

Ich schaue auf meine Armbanduhr und stelle fest, dass es bereits vier Uhr ist und wir immer noch nichts gegessen haben. Das Mittagessen mit den anderen haben wir ausfallen lassen, einerseits wegen der Stimmung, die immer aufkommt, sobald Ace mit am Tisch sitzt, und andererseits, weil genau zu dieser Zeit eine Lesung von Rainbow Rowell stattgefunden hat, die ich schon immer einmal im richtigen Leben treffen wollte. Dass man darüber das Essen vergisst, ist doch irgendwie verständlich, oder?

„Vielleicht ist die Kantine ja noch offen", meine ich und verschränke meine Finger mit denen von Ace, um ihn hinter mir her zu ziehen. Nur deswegen selbstverständlich, nicht etwa weil sich seine Hände so wunderbar weich anfühlen, perfekt in meine passen und ich es liebe, wenn er mit seinem Daumen über meine Hand streicht.

„Scheint nicht unser Glückstag zu sein", gibt Ace leise von sich, als wir uns nach zweimaligem Abbiegen und etlichen Schritten geradeaus vor einer verschlossenen Mensatür wiederfinden. Empört sehe ich ihn an.

„Wie kannst du das nur sagen? Der Tag war wunderschön, er ist wunderschön! Ich habe so viele meiner Lieblingsautoren getroffen, ich bin hier mit dir und du hältst meine Hand, was soll daran kein Glück sein? Du musst echt dringend mal etwas an deiner Einstellung ändern, Ace."

Was ich als einen Scherz begonnen habe, ist schlussendlich nicht ganz so lustig angekommen. An Ace verstärktem Griff um meine Hand und dem wiederholten Hüpfen seines Adamsapfels merke ich, wie sehr ihn meine Worte getroffen haben und ich schelte mich selbst, dermaßen unsensibel gewesen zu sein. Bevor er sich umdrehen und gehen kann, löse ich meine Finger aus seinen und lege meine Hände auf seine Brust, damit ich direkt vor ihm stehe und er mich ansieht. Für einen kurzen Augenblick vergesse ich, wie man atmet, wie man redet, dass die Erde sich um die Sonne dreht und ich seit gefühlt drei Tagen nichts gegessen habe. Es gibt nur Ace' blasses Gesicht und seine daraus hervorstechenden braunen Augen, die so dunkel sind, dass sie mich in jeden noch so tiefen Abgrund ziehen könnten.

„So habe ich das nicht gemeint", beginne ich, doch Ace unterbricht mich, bevor ich zu der wesentlich wichtigen Sache kommen kann. Er nimmt meine Hände von seinen Wangen und dreht sich um, um zu gehen. Dieses Mal bleibt mein Herz vor Schreck stehen und ich spüre, wie mich die blanke Panik überfällt. Ich will nicht, dass er geht. Will ich nicht.

„Ace, bitte!", rufe ich und möchte mir dabei gar nicht vorstellen, wie verzweifelt ich in diesem Moment klingen muss. Ace wendet mir sein Gesicht zu und winkt ungeduldig mit der Hand, als würde er wollen, dass ich nachkomme.

FeuerwerkWhere stories live. Discover now