69 - Phil

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PHIL

Ich mache mir nicht vor, ich könnte was verändern, aber ich bin nicht weniger, nur weil ich weniger bin. Ich bin immer noch reich an Erfahrungen, reich an Wissen, reich an Talent. Bin talentiert darin, zu wissen, dass man manchmal erfährt, dass sich Dinge oft ändern, ohne dass man eine Wahl hat. Mich hat schließlich nie jemand gefragt: 

Hey, ist es okay, wenn wir dir ein Bein nehmen? Hast ja immer noch ein anderes, um durchs Leben zu hüpfen. 

Aber immer nur Hüpfen macht auf Dauer auch keinen Spaß, davon wird mir nur schlecht und von Schlechtem hab' ich mittlerweile genug. Hab' ich mich doch so lange verkrochen, die Augen verschlossen, alle verstoßen, aber damit ist jetzt Schluss. Ich hab zwei Löcher in meinen Hosen und nur in einem steckt ein Bein, aber das heißt bloß, dass ich genug Platz habe, das andere mit ganz vielen Süßigkeiten zu füllen. Bin dann wohl ein Behinderter mit Zuckerschock, aber behindert sind wir doch alle und Zuckerschock, naja. Schaut doch mal auf all' die Diagnosen Diabetes Typ II, die sagen schon alles, bald isst es vorbei. Bin dann wohl gar nicht so anders als du - buh! Überraschung! Wir spielen uns doch alle nur was vor. Der eine hat zwei Beine, der andere zwei Gehirnzellen, der dritte drei Brüste und der vierte so viel zu verlieren. Trotzdem tun wir so, als sei alles in bester Ordnung, das Leben unser Hauptgewinn, für das wir eine Auszeichnung bräuchten, denn wieso sonst sollten so viele es nicht nach ihren eigenen Vorstellungen leben? 

Ich bin vielleicht verkrüppelt, aber mein Hirn ist noch da. Und auch mit nur einem Bein kann ich die Zukunft erobern, kann ich das Leben einfangen und damit machen, was ich will. Wenn es mir blöd kommt, fahre ich es einfach über den Haufen, rolle drüber, denn das konnte ich früher noch nicht. Mein altes Ich sagt Lass uns Rollen tauschen. Alles verändert sich, jede Stunde, Minute, Sekunde, aber davon muss dir nicht schlecht werden; Kotze hat noch niemand gerne aufgewischt."

Ich lege eine Pause ein, um meinem Schlusssatz mehr Gewicht zu verleihen. Und um das Gewicht auf meiner Brust endlich abwerfen zu können, das sich seit dem Unfall dort niedergelassen hat.

Vielleicht ist die Veränderung nur ein Schauspieler und in Wahrheit werden wir alle so sein, wie wir schon immer waren."

Mein Herz schlägt in rasantem Tempo vor sich hin. Als ich fertig bin, ist es erst einmal still. Alle schweigen und blicken uns abwartend an. Warten sie darauf, dass noch ein Text kommt, dass wir plötzlich ein Feuerwerk hochgehen lassen oder dass wir uns splitterfasernackt ausziehen?

„Was starrt ihr denn alle so? Ihr dürft ruhig klatschen", rufe ich und kann mir das adrenalinbedingte Grinsen nicht verkneifen. Auf einer Bühne zu stehen und zu zeigen, was in einem steckt, ist noch genauso berauschend für mich wie früher. Jetzt gerade fühle ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen oder mir die Seele aus dem Leib schreien.

Ich sehe das Publikum schmunzeln und als erste springt Miss O'Hara von ihrem Stuhl auf und klatscht so begeistert und stolz, wie ich sie noch nie gesehen habe. Kaum eine Sekunde später trifft uns der Applaus der Menge wie eine tosende Welle.

Nimy wuschelt mir durch die Haare und lacht mir entgegen. „Gut gemacht."

Diese unglaubliche Leichtigkeit in mir ist eines der schönsten Gefühle der Welt.

Bevor ich jedoch eine Antwort geben kann, hopst der Moderator leichtfüßig zu uns auf die Bühne und ergreift das Wort. Ich gebe mein Mikrofon, an das ich mich bis gerade eben geklammert habe, an Noah weiter, der es für mich zurück in den Ständer steckt. Erst unmittelbar danach begreife ich, dass ich mir gerade ohne Bedenken bei etwas helfen habe lassen, das wegen meines Rollstuhls für mich alleine wesentlich schwieriger gewesen wäre.

„Vielen Dank an die Schüler der Redmayne Highschool aus Beckshill. Mit diesem Auftritt haben sie sich auf jeden Fall noch eine Runde Applaus verdient, oder was meint ihr?" Er grinst uns an, als hätte er sich fünfzehn Drogen gleichzeitig reingeschmissen und ich grinse ebenso bescheuert zurück, als noch einmal die Begeisterung für unsere Arbeit zu hören ist. Ignorieren wir mal schön, dass sie vielleicht auch nur aus Höflichkeit klatschen. „Wir machen jetzt eine kleine Pause, sind aber schon in fünfzehn Minuten wieder da. Dann heißt es Vorhang auf für die Schüler der St. Michael's School aus Edinburgh. Also lauft bloß nicht weg!"

Während die anderen der Gruppe eher zaghaft von der Bühne steigen, rolle ich auf die kleine Rampe zu, die sie vorhin extra für mich angebracht haben und schließe die Augen, als ich hinuntersause und mich nur knapp einbremse, bevor es mich doch noch auf die Schnauze haut.

„Gehst du jetzt zur Formel 1 oder was hast du vor?", fragt Dex amüsiert. Seine Augenbrauen sind besorgt zusammengezogen, aber sonst wirkt er viel entspannter, als ich es gewohnt bin.

Es gefällt mir, dass er mich wieder so aufzieht, ohne Samthandschuhe, als könnte ich bei der winzigsten Berührung brechen.

„Vielleicht später. Aber davor besorgst du es mir bitte auf meiner Gartenliege."

Noah, der einen Arm um Mayas Schulter gelegt hat, lacht glucksend und schüttelt den Kopf. Da kommt auch Clem dazu und mischt sich überraschend gut gelaunt ein.

„Wenn ihr es treibt, dann seid dabei bitte so leise, dass man es nicht in der ganzen Herberge mitanhören muss."

„Ich kann nichts versprechen. Wenn Philly und ich erst mal loslegen, dann gibt es für nichts eine Garantie", meint Dex und blickt herausfordernd auf sie herab, woraufhin sie nur eine Augenbraue hochzieht, bevor sie ihr Grinsen nicht mehr unterdrücken kann.

„Ihr wart der Wahnsinn!", eilt auf einmal Miss O'Hara herbei und reißt uns aus unserer kleinen Phil-und-Dex-Sex-Diskussion, bevor sie endgültig eskaliert. „Jeder einzelne von euch kann so stolz auf sich sein. Ich meine, Eleanor!" Das unscheinbare Mädchen am Rande unserer kleinen Runde zuckt bei der Erwähnung seines Namens zusammen. „Ich hatte wirklich Gänsehaut, als du und Palma gemeinsam gesprochen habt, und dieser Text war bis jetzt der beste, den ich von dir hören durfte. Du hast dich selbst übertroffen. Und Ace, bitte unterschätze dein Talent niemals. Niemals, hörst du? Dasselbe gilt für dich Palma. Dein Beitrag-" Miss O'Hara hält inne, schüttelt dann den Kopf und lacht kurz laut auf.

„Geht es Ihnen gut?", fragt Noah.

„Sind Sie betrunken?", fragt Clem.

„Was?" Mit einem Mal versteinert ihre Miene und sie reißt die Augen auf. „Nein. Ich bin nicht betrunken, ich bin nur- Es tut mir leid, ich bin nur ein bisschen durch den Wind. Ich muss ständig daran denken, dass das euer Abschlussjahr ist."

Oh. Richtig, da war ja was.

„Ich bin wirklich stolz, eure Lehrerin sein zu dürfen. Ihr habt mich heute daran erinnert, wieso ich diesen Beruf gewählt habe."

Niemand weiß so richtig, was er darauf antworten soll, also stehen wir nur peinlich berührt in unserem kleinen Grüppchen neben der Bühne und schauen von einem zum anderen. Palma fängt meinen Blick kurz auf und lächelt mir zu. Ich muss ihr später unbedingt sagen, wie gut ihr Text war und dass sie mit allem, was sie bedrückt, zu mir kommen kann. Es ist an der Zeit, dass wir füreinander da sind – und sie nicht allein diejenige ist, die meine Lasten trägt. Wenig später dreht sie ihren Kopf in Richtung Eleanor.

Clem sieht öfter zu Dex als sie sollte, während dieser Palmas und meine Blickabmachung mitverfolgt hat. Maya schmiegt sich immer noch eng an Noah und legt nun ihren Kopf auf seiner Schulter ab. Ace' Hand greift nach Nimys. Nicht im Verborgenen, sondern bewusst und zielstrebig.

Vielleicht finde ich so etwas ja auch irgendwann, aber das hat Zeit. Ich habe Zeit. Sie läuft nicht vor mir davon – und ich auch nicht vor ihr.

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Das war's leider auch schon mit unseren Slams :') habt ihr einen Favoriten? 

Ich (KnownAsTheUnknown) sende euch an dieser Stelle außerdem die besten Grüße aus Estland! Seit gestern darf ich dieses schöne Land mein Zuhause nennen - zumindest für die nächsten zehn Monate. Mal sehen, was da noch so auf mich zukommt.

Schönes Wochenende und "hüvasti"!

- liljaxxx & knownastheunknown -


FeuerwerkWhere stories live. Discover now