64 - Noah

200 32 13
                                    

NOAH

Das Adrenalin pocht in meinen Adern und ich umklammere immer noch die Griffe von Phils Rollstuhl, den ich abgefangen habe. Gerade rechtzeitig, um zu verhindern, dass er volle Kanne gegen mich prallt und mich unter sich begräbt. Scheinbar gelingen auch den unsportlichsten Menschen in den richtigen Momenten Glückstreffer.

„Ist alles okay?", frage ich, als ich realisiert habe, dass Nimy auf Phils Schoß sitzt und ihr hochroter Kopf mit geschwollenen Augen auf seiner Schulter ruht.

„So lala." Phil verrenkt seinen Nacken, um mich direkt anzusehen. „Danke fürs Auffangen."

„Ja, wird schon wieder", meint auch Nimy zögernd, steht von dem Rollstuhl auf und wischt sich mit ihrem Ärmel übers Gesicht. „Danke."

Ich nicke verlegen und rücke meine Brille gerade. So wie vorhin habe ich Nimy noch nie erlebt - völlig unkontrolliert und so laut, dass ich sie auch knapp vor meiner Zimmertür hören konnte. Alle Dinge, die sie Phil aber auch uns vorgeworfen hat, schwirren mir durch den Kopf.

Weil wir alle zu viel Schiss davor hatten, dass er sich vor uns zurückzieht, wenn wir ihn bedrängen.

Dieser einfache Satz löst eine Lawine an Schuld in mir aus. Er ist so wahr, dass ich Phil nicht einmal in die Augen sehen möchte. Augenblicklich denke ich an die Nacht zurück, als Maya mit zu Clem gekommen ist und sie versucht haben, ihre Differenzen zu klären. Nett ausgedrückt. Am selben Abend habe ich Phil angerufen, in der Hoffnung, er könnte mich aufheitern, und ihn damit aus seinem Schlaf gerissen. Es war der einzige direkte Schritt, den ich auf ihn zugegangen bin. Viel zu schnell habe ich den Mut verloren und mir eingeredet, dass Phil meine Gesellschaft sowieso nicht will.

„Ähm, Phil?", frage ich unsicher und schlucke meine Schuldgefühle hinunter so gut ich kann. Schluss mit dem Kneifen, wir sollten das alles endlich klären. „Können wir vielleicht mal miteinander reden?"

Nimys und seine Augen treffen sich und plötzlich grinsen sie einander an, dass ich mich frage, wie sie aus dem Irrenhaus entkommen sind. „Wir wollten gerade hinausgehen. Kommst du mit?", fragt Nimy mich bloß.

Ich nicke mit einem seltsamen Gefühl im Magen. Da ist Hoffnung, aber auch Angst. Ob wir die Mauer, die wir zwischen Phil und uns aufgebaut haben, irgendwie durchbrechen können?

„Wohin?", mischt sich Dex plötzlich ein.

Ich habe ganz vergessen, dass Clem und er auch noch hier im Flur stehen. Sie waren so ungewöhnlich leise. Nun mustere ich den großen Jungen aufmerksam. Er wirkt ungewohnt instabil, so als könne man ihn mit einer Fingerspitze zum Wanken bringen. Es sieht ihm gar nicht ähnlich. Eigentlich war Dex für mich immer der Inbegriff von Stärke, doch nun müsste Phil nur ein scharfes „Geht dich nichts an" erwidern und er würde nachgeben. Geduldig wartet Dex auf seine Antwort, aber sie kommt nicht.

„Nach draußen", wiederholt Nimy schließlich und zieht noch einmal lautstark den Rotz durch die Nase hoch, dabei hat sie längst aufgehört zu weinen. „Kommt schon." Es braucht nur wenige Schritte, dann ist sie beim Aufzug angekommen und drückt den Knopf, der ihn herbeiruft.

Die Tür geht automatisch auf und wortlos quetschen wir uns zu fünft in den kleinen Raum, was gar nicht so einfach ist. Clem stößt mir versehentlich ihren Ellbogen in die Seite, ich mache einen Schritt zurück und trete auf Nimys Fuß.

„Aua!", jaulen wir gleichzeitig. Dann schließt sich die automatische Tür und wir sehen unsere Spiegelung vor uns.

„Ein Riese, ein Zwerg, ein Ginger, eine Rotznase und der Typ im Rollstuhl."

Kaum hat Phil es ausgesprochen, lachen wir los. Es ist schön, uns dabei zuzusehen. Diesem bunten Haufen, der sich an etwas Ungewisses klammert und doch so ehrlich lachen kann.

FeuerwerkWhere stories live. Discover now