39 - Ace

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ACE

Es gibt Tage, an denen einfach alles beschissen läuft. Jede Ampel ist rot, man hat den Bus verpasst, alle möglichen Hausaufgaben vergessen, dann fängt es an zu regnen, man hat keinen Regenschirm dabei, die Haare sind fettig, die Augenringe gleichen einem schwarzen Loch, die Dusche am Morgen ist ausgefallen und dann muss man auch noch einen Vortrag vor der ganzen Klasse halten, während das Gehirn sich schon abgeschaltet oder gar nicht erst eingeschaltet hat und nur ans Schlafen denkt.

Und dann gibt es mich. Bei mir sind diese Tage Normalzustand, und wie die wirklich schlechten Tage aussehen, wollt ihr gar nicht wissen.

Da denkt mein Kopf nämlich nicht nur an Schlafen, sondern eher an nie-wieder-Aufwachen und lauter andere unschöne Sachen.

Vor einem Jahr, als ich am absoluten Tiefpunkt war, hatte ich mir angewöhnt, mir zu jedem Gegenstand, den ich sah, eine Geschichte auszudenken. Sie alle handelten davon, wie ich mich mit ziemlich banalen Dingen wohl am besten umbringen könnte. Ich weiß noch genau, wie wir in Biologie darüber geredet hatten, dass es bei einer hohen Wasseraufnahme zu einem Ungleichgewicht des Mineralienhaushaltes im Körper kommt - was tödlich enden kann. Daraufhin spielte ich lange mit dem Gedanken, 12 Liter Wasser an einem Tag zu trinken, um zu sehen, ob es tatsächlich stimmt.

Das Wort „durchgeknallt" bekam selbst für meine Verhältnisse eine ganz neue Bedeutung, als ich mir überlegte, ob ich es schaffen würde, so viel Wasser zu trinken, bis dieses Ungleichgewicht eintreten würde und ich diese elende Welt nicht mehr sehen müsste. Und da sagen alle immer, Wasser wäre so gesund.

Erst Miss O'Haras Anwesenheitskontrolle holt mich aus meiner wässrig dunklen Wolke wieder zurück in unseren bescheidenen Literaturkurs, der heute noch ein wenig kleiner scheint als sonst. Unsere Lehrerin wundert mittlerweile wohl überhaupt nichts mehr, denn sie nimmt Palmas halbherzige Entschuldigung für das Fehlen von Dex und Phil unbeeindruckt zur Kenntnis, bevor sie ihren Blick auf mich richtet und nach Nimy fragt.

Der ganze Kurs dreht sich zu mir um und ich wünsche mir, die Schatten würden mich einfach verschlingen, sodass mich endlich niemand mehr wahrnehmen würde und ich in Ruhe in meinen Gedanken und dem altbekannten Sumpf aus Selbstmitleid und Einsamkeit ertrinken könnte.

„Woher soll ich das wissen?" Meine Stimme klingt schroffer, als ich will, und ich verspüre den Hauch eines schlechten Gewissens, doch Miss O'Hara übergeht meinen Ton und schenkt mir sogar ein kleines Lächeln, so als wisse sie, dass mehr dahinter steckt. Dabei weiß sie nichts, überhaupt nichts. Und Nimy? Weiß sie auch nichts?

Meine innere Stimme trifft einen wunden Punkt, auch wenn ich es mir nicht eingestehen will. Während die anderen Schüler sich wieder umdrehen und Miss O'Haras Vortrag über Schillers Vorstellungen eines freien Menschen folgen, bemerke ich weiterhin Clems unverwandten Blick auf mir. Einen Moment lang treffen sich unsere Augen und sie zieht nachdenklich eine Augenbraue hoch, so als hätte sich in ihrem Kopf gerade etwas zusammengefügt und sie würde nun mehr verstehen, bevor ich den Blick abwende und versuche, Bilder von Nimy, die mir soeben durch den Kopf gehen, abzuschütteln.

Ihre Lockenmähne, ihre tanzenden Sommersprossen, ihre zarten Lippen und dieser Duft von Karamell, der sie immer umgibt; fast habe ich das Gefühl, sie stünde direkt neben mir.

Mein Herz, das ich so lange nicht mehr schlagen gehört habe, pocht holprig vor sich hin, als hätte es eben erst seinen richtigen Takt gefunden.

Dabei weiß ich genau, dass Nimy zu gut für mich ist. In ihr ist nicht der leiseste Hauch Dunkelheit vorhanden, sie ist das hellste, reinste und strahlendste Licht, während in mir nur die Finsternis wohnt. Manchmal würde ich sie gerne vertreiben, würde dieses Strahlen in mich hinein lassen, wie in unserem gemeinsamen Moment im Park vor einigen Tagen.

Noch nie habe ich etwas ähnliches erlebt, noch nie habe ich mich jemandem so sehr geöffnet wie Nimy an jenem Tag. Und es hat sich gut angefühlt, diese liebevolle Seite in mir zu entdecken und mit jemandem zu teilen. Nicht nur mit jemandem, sondern einer ganz bestimmten Person. Nimy.

Aber es wäre nicht fair, würde ich sie in diesen Strudel, der in mir tost, hineinziehen. Das ist mir am selben Abend bewusst geworden und auch die Tage danach, als sie angefangen hat, den Kontakt zu mir zu suchen.

Nimy sehnt sich nach etwas, das ich ihr einfach nicht geben kann. Sie braucht Spaß und Freude und Sonnenstrahlen und Humor - eine Sprache, die ich weder spreche, noch wirklich verstehe.

Ich weiß nie, wie lange ein Tief anhält, wie lange die Gedanken in meinem Kopf mich anschreien, es doch endlich zu Ende zu bringen und frei zu sein. Welch' eine Ironie, dass Noah in genau diesem Moment sagt, dass Maria Stuart im Endeffekt nur frei geworden ist, weil sie ihr Schicksal akzeptiert und dem Tod mit Würde entgegengeblickt hat.

Mein Schicksal ist es, zu sterben. Oder unglücklich zu leben, wobei ich das Sterben definitiv vorziehe. Ich habe mich damit abgefunden, dass dieses Leben mich hasst und mir nichts mehr zu bieten hat. Nur Nimy, die passt in diesen Plan einfach nicht hinein.

Sie möchte mich verstehen, möchte mich begreifen, doch dafür müsste sie die Dunkelheit kennenlernen. Und das werde ich nicht zulassen, also muss ich mich von ihr fernhalten, auch wenn mein Herz bei jedem Blick, jedem Lachen von ihr ins Stolpern gerät.

Du tust ihr nicht gut, Ace, flüstert diese schreckliche Stimme in meinem Kopf, ohne die ich mir ein Leben schon gar nicht mehr vorstellen kann, solange ist sie bereits da. Doch dieses Mal hat sie recht und ich widerspreche ihr nicht.

Ich bin nicht gut genug für dich, Nimy. Und es gibt niemanden, dem ich dafür die Schuld geben könnte außer mir selbst. Glaub mir, ich hasse mich dafür.

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Ich weiß gar nicht mehr, was ich dem noch hinzufügen soll... also schlage ich euch einfach mal vor, liljaxxx 's Instagram account, namens sonnenblumenliebee, aufzusuchen. Wirklich (insofern ihr Instagram habt), tut es. Ihr werdet es nicht bereuen, über ihre wunderschönen Texte zu stolpern ♡

Schönes Wochenende!

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now