40 - Phil

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PHIL

Eine junge Frau sitzt auf dem Sofa. Sie trägt ihr schwarzes, kurzes Haar zu einem schiefen Pony geschnitten - eigentlich würde ich diese Frisur als hässlich bezeichnen, aber erstaunlicherweise schmeichelt sie ihrem kantigen Gesicht. Sie kann nicht viel älter als ich selbst sein, vielleicht so um die zwanzig.

„Hallo?", frage ich etwas verwirrt, nachdem ich sie ein paar Sekunden nur angeglotzt habe und niemand ein Wort gesagt hat. Dann drehe ich meinen Kopf soweit ich kann, um Doktor Murray, der hinter mir steht, fragend anzusehen.

Er erwidert meinen Blick nicht, sondern sieht lächelnd über mich hinweg. „Schön, dich zu sehen."

„Ich freue mich auch. Es ist ja schon eine Weile her." Als ich mich wieder zu ihr umdrehe, steht sie auf.

Nein. Bitte nicht.

Man muss außer Augen nichts im Kopf haben, um zu merken, dass etwas nicht stimmt. Sie geht holprig, vorsichtig und scheint mehr Gewicht auf das linke Bein zu verlagern als auf das rechte. Plötzlich bleibt sie vor mir stehen, streckt mir die Hand entgegen und wie ferngesteuert schüttele ich sie.

„Hi, Phil. Ich bin Aileen. Du fragst dich sicher, was das alles soll." Etwas verlegen zieht sie ihre Hand zurück, da ich sie sonst wohl immer noch festhalten würde. „Hast du was dagegen, wenn ich mich erstmal wieder hinsetze?"

„Äh, nein. Natürlich nicht", sage ich endlich, nachdem ich irgendwie meine Sprache wiedergefunden habe. Dann darf ich erneut beobachten, wie sie sich ruckelnd auf die Couch zurückbegibt und sich mit einem zu abrupten Plumps darauf fallen lässt.

„Also – ich darf doch, Doktor?" Sie wendet sich mit herausforderndem Unterton an Doktor Murray.

„Nur zu, Aileen", versichert er ruhig und nickt.

Ich sitze immer noch so nahe bei der Tür wie zu Beginn und fühle mich wie in einem Kinofilm. Allerdings hat man mich ohne Skript hier hineingeworfen. Wie bin ich hierher geraten? Soll das jetzt meine Lektion des Universums werden?

„Ich habe gehört, was dir passiert ist, Phil. Und wie du wahrscheinlich schon bemerkt hast, sitzen wir im selben Boot, das wir dank unseren wundervollen Beinen nicht verlassen können. Wie sollten wir auch?" Sie schnaubt belustigt und kneift dabei kurz die Augen zu. „Ohne Beine kann man nicht so einfach aufstehen. Bei mir ist es jetzt..." Sie hält inne und zählt leise, aber mithilfe ihrer Finger. „Ungefähr acht Monate her. Da hab' ich mich entschieden, die Amputation machen zu lassen, um gegen das Osteosarkom anzukämpfen. Weißt du, was das ist?"

„Knochenkrebs", antworte ich trocken. Ich habe mal vor Jahren ein Referat dazu gehalten. Damals, als ich gedacht habe, mich nie wirklich mit Amputationen beschäftigen zu müssen.

„Umgangssprachlich, ja. Ist aber eigentlich unwichtig, immerhin hab ich es überlebt. Und jetzt hab ich das hier." Sie zieht das rechte Hosenbein hoch.

Ihre Offenheit wäre bewundernswert, würde sie mir damit nicht metaphorisch gesehen ihre Faust in die Magengrube rammen. So muss sich der Wolf bei den sieben Geißlein gefühlt haben, nachdem sie seinen Bauch aufgeschnitten, ihn mit Steinen gefüllt und wieder zugenäht haben.

Meine Augen wandern von ihrem schwarzen Turnschuh hinauf bis zu dem falschen Knie. Die Prothese ist mit einem fleischfarbenen gummiartigen Material überzogen, das wohl ihr echtes Bein nachahmen soll, das nur noch ein Stummel des Oberschenkels ist. Während ich noch überlege, ob ich mich jetzt übergeben muss oder es zurückhalten kann, quasselt Aileen wieder vor sich hin.

„Das Schicksal hat es echt nicht gut mit mir gemeint. Bei mir wurde schon, als ich vierzehn war, Typ III der spinalen Muskelatrophie diagnostiziert. Kurz gesagt: Muskelschwund. Dann haben sie komplett unabhängig davon den Tumor entdeckt und plötzlich hieß es, ich verliere mein Bein." Sie lacht bitter auf und schüttelt den Kopf. „Vor meiner Operation hatte ich mehrere Sitzungen mit Doktor Murray – und ich hab' ihn gehasst." Das Hosenbein rutscht hinunter und endlich kann ich wieder ihre Augen fixieren, auch wenn der Anblick ihrer Prothese sich in mein Gedächtnis gebrannt hat. Sie grinst. „Naja, gehasst ist wahrscheinlich übertrieben. Trotzdem hab' ich mir nachher einen anderen Therapeuten gesucht, mit dem ich besser umgehen konnte. Doktor Murrays ewiges In-allem-das-Gute-sehen ist mir zu sehr auf die Nerven gegangen."

„Ich nehme das durchaus zur Kenntnis. Das hab ich schon bei deinen Wutausbrüchen damals getan und ich bin immer noch derselben Meinung wie damals, dass man die Hoffnung nicht verlieren darf. Wenn ich derjenige sein muss, der sie hinter uns herschleift, ist mir das auch recht. Das ist immerhin mein Job", bemerkt der dunkelhäutige Therapeut, der immer noch hinter mir steht. Ich hätte fast vergessen, dass er hier ist.

Seine Worte lösen etwas in mir aus, das ich nicht erklären kann. Irgendetwas scheint langsam abzubröckeln, wie eine Kruste, die sich gebildet hatte. Was soll dieser ganze Unsinn hier eigentlich? Wem wollen sie etwas vormachen? Du wirst nie wieder so laufen können wie früher, Phil. Sieh sie dir an. Das ist wohl noch das Beste, was du bekommen kannst.

Und plötzlich brechen die Wellen erneut über mich herein. Ich höre nicht, was Aileen nun zu Doktor Murray sagt, als sie lacht. Mein Gehirn schwimmt in Nebel. In der Dunkelheit.

Nie wieder, Phil. Von dir ist nichts mehr übrig. Du könntest genauso gut tot sein. Dann würdest du ihnen allen weniger zur Last fallen. Du wirst nie wieder laufen, nie wieder glücklich sein.

„Stopp!", schreie ich plötzlich. Aileen, die bis gerade eben gesprochen hat, starrt mich mit halboffenem Mund an. „Ich... Ich muss hier weg."

„Phil", sagt Doktor Murray mit Sorgenfalten auf der Stirn und versperrt mir den Weg zur Tür. „Bitte. Beruhig dich erst einmal. Atme ganz ruhig."

Die Übelkeit wird schlimmer. „Lassen Sie mich vorbei. Sofort!" Erst, als ich diese Worte laut ausspreche, realisiere ich, dass ich weine. Ich höre mich an wie ein kleiner, bockiger Junge. Ich starre Doktor Murray abwartend an und ziehe geräuschvoll den Rotz meine Nase hoch.

„Ich denke nicht, dass du jetzt-"

„Es ist mir scheißegal, was Sie denken! I-ich muss hier raus!", brülle ich und habe wieder diesen kieksigen Ton in der Stimme, der klingt, als würde ich nicht genug Luft bekommen. So fühlt es sich auch an. Mir ist nicht nur mein Bein, sondern auch die Luft zum Atmen abhandengekommen.

Endlich hebt Doktor Murray beschwichtigend die Hände und tritt von der Tür zurück. „Ich werde deine Mutter anrufen lassen, okay?"

Ich sage nichts, sondern rolle einfach drauf los. Doktor Murray hält mir die Tür auf, was mich nur noch rasender macht. Nicht einmal dazu bin ich selbst noch in der Lage, was?

Wohin ich will, weiß ich nicht, aber ehe ich mich versehe, bin ich im Fahrstuhl und fahre ins Erdgeschoss. Meine Spiegelung an den Wänden ist die einzige Gesellschaft.

Ein Junge mit mattem, etwas zu langem Haar, geröteten Augen, Rotz im Gesicht und erbärmlich herabhängenden Mundwinkeln. Ich atme laut aus und ein und kneife die Augenlider zu, bis ich rote und gelbe Punkte vor mir tanzen sehe. 

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- liljaxxx & knownastheunknown -

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