49 - Ace

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ACE

Straßen, Häuser und Bäume ziehen an uns vorbei, bis den Straßen immer mehr Wiesen und Felder weichen. Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich auf dem Weg zu einem Literaturfestival sind und die Gegend sich währenddessen immer mehr in einen heruntergekommenen Bauernhof verwandelt. Wobei - eigentlich wollte ich mir über nichts mehr Gedanken machen. Das Leben, die Menschen darin verdrängen und so lange schweigen, bis ich in meiner eigenen Stille ertrinke.

Dieses Vorhaben stellt sich allerdings als schwieriger heraus, als es klingt. Um mich herum herrscht das reinste Chaos, als wären wir Zwölfjährige, die zum ersten Mal in ihrem Leben auf Klassenfahrt fahren. Dex zieht Palma spöttisch an ihren Zöpfen, Clem tritt bei jedem Kuss von Maya und Noah einmal kräftig in deren Sitz, was diese zum Aufschreien bringt, und selbst Eleanor revanchiert sich das ein oder andere Mal für die Sticheleien an ihrer Freundin und verwuschelt Dex die Haare, was diesen wiederum dazu anfeuert, sie durchzukitzeln. Alles ist ein Durcheinander und es herrscht ein Geschrei, das meiner Stille umso mehr entgegenzusetzen hat.

„Ruhe jetzt! Ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr!", ertönt Miss O'Haras Stimme vom Beifahrersitz und erstaunlicherweise weicht dem vorherigen Gebrüll sogleich ein leises Murmeln. Bemüht unbeteiligt guckend, schaue ich wieder aus dem Fenster und drehe meine Musik ein wenig lauter.

I'm a goner, somebody catch my breath

I'm a goner, somebody catch my breath

I wanna be known by you

I wanna be known by you

Ohne dass ich es verhindern kann, bleiben meine Augen an dem einzigen Lockenkopf hier im Bus hängen und ich frage mich, wie man nur einen so schönen Hinterkopf haben kann. Ob ich von hinten wohl genauso liebenswert aussehe wie Nimy? Bravo, das sind ja Gedankengänge heute. Etwas Besseres hast du nicht auf Lager?

Ich habe so viel Besseres auf Lager. So viele Emotionen, die Nimy mit jedem Blick und jedem Lachen von ihr in mir auslöst, auch wenn nichts davon mir gilt. Allein sie glücklich zu sehen, macht mich glücklich, und dieses Glücklichsein ist ein Gefühl, das ich nicht haben will. Ich habe Angst vor ihm.

„Ich habe Angst davor, glücklich zu sein", sagen meine Lippen, doch es kommt kein Ton heraus. Ich sitze nur da wie ein Fisch auf dem Trockenen, während ich diesen Satz wie ein Mantra stetig wiederhole.

Eine Reihe vor mir bewegt sich auf einmal etwas und ich blicke direkt in Clems braune Augen, die mich durchbohren. Ihr Kopf ist hochgeschossen, als hätte sie das Zischen einer Schlange gehört, aber ihr Blick ist undefinierbar. Normalerweise erkenne ich, was die Menschen denken, was sie über mich denken, aber dieses Mal pralle ich auf eine Wand aus undurchdringbaren Steinen. Mir ist, als bekäme ich keine Luft mehr, als würde Clem mit ihrem stechenden Blick alles noch in mir vorhandene herausziehen und mich aussaugen. Wie ein Vampir. Ihre roten Haare passen perfekt dazu.

Als ich schon denke, ich erleide einen Herzinfarkt, dreht sie sich abrupt um und lehnt sich zu Nimy herüber. Ich höre nicht, was sie sagen, aber es ist ziemlich eindeutig, dass es von mir handelt. Nur bin ich gerade viel zu beschäftigt, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen, und das I'm a goner, das mir in den Ohren tönt, ist dazu keine große Hilfe. Erregt reiße ich mir meine Kopfhörer aus den Ohren, nehme die Klangwelt um mich herum wieder wahr - das Rattern des Busses, Dex tiefe Bassstimme, die vor sich hin jodelnde Radiomusik des Busfahrers - und suche hektisch nach meiner Kamera.

„Wo ist dieses verdammte Teil", knurre ich und bin wohl etwas lauter als beabsichtigt, da sich sogleich sieben Augenpaare auf mich richten und ich urplötzlich im Mittelpunkt des Geschehens bin. Mir gefriert das Blut in den Adern, aber ich kann nicht aufhören, den Rucksack auf meinen Nebensitz zu durchwühlen. Wenn ich meine Kamera nicht gleich zu fassen kriege und dieses kühle, beruhigende Metall nicht in meinen Händen spüre, werde ich durchdrehen, das ist sicher.

„Hey, Kumpel, brauchst du vielleicht Hilfe?" Dex ist von seinem Sitz aufgestanden und nähert sich mir in atemberaubender Geschwindigkeit, so scheint es mir zumindest. Meine Sicht wird schon ganz verschwommen und ich merke, wie mir der Schweiß von der Stirn tropft. Trotzdem kann ich nicht aufhören, alle Gegenstände aus meinem Rucksack ans Tageslicht zu befördern, um diese vermaledeite Kamera zu finden – ohne Erfolg.

Das darf nicht wahr sein, darf nicht wahr sein, darf nicht wahr sein!

Nur am Rande merke ich, dass der Bus stehengeblieben ist und sich eine sichtlich verwirrt dreinblickende Miss O'Hara in meine Richtung aufmacht. Zu beschäftigt bin ich damit, mein immer kleiner werdendes Sichtfeld und diese stechenden Kopfschmerzen in den Griff zu bekommen und dabei das Atmen nicht zu vergessen. Mein selbstironisches Ich kann es natürlich nicht lassen, auch hier seinen Kommentar abzugeben: Du wolltest doch immer sterben, sei doch froh! Jetzt hast du es endlich geschafft. „Aber doch nicht so!", brülle ich mich selbst an – und anscheinend auch alle anderen im Bus, denn diese Totenstille, die ich mir wenige Minuten zuvor noch sehnlichst gewünscht habe, scheint sich über uns alle gelegt zu haben.

Ich spüre jeden einzelnen Blick auf mir, höre ihre Gedanken in meinem Kopf, was für ein Freak ich bin, das Wort Freak in Endlosschleife, und überlege für eine Sekunde, ob es nicht doch sinnvoll wäre, eine Panikattacke zuzulassen und einfach zu ersticken.

Die Sekunde wird zu einer halben, als sich zwei Arme um mich schlingen und ich einen schnell pochenden Herzschlag an meinem Ohr höre. Locken kitzeln mich an der Nase und so schnell ich kann, vergrabe ich meinen Kopf in Nimys Halskuhle, um diese hässlichen, erbärmlichen Laute, die ich von mir gebe, schnellstmöglich zu unterdrücken.

Die Schwere auf meiner Brust lässt nach und ich kann wieder atmen, rieche wieder diesen ganz besonderen Duft nach Karamell und Geborgenheit, den nur Nimy verströmt. Obwohl mir mein Fuß schrecklich weh tut, weil er zwischen den Sitzen eingeklemmt ist, mein Rücken verdreht ist und es Nimy hier auf dem Boden zwischen den Sitzreihen sicher ähnlich gemütlich hat wie ich, bleibe ich noch einen Moment an sie geschmiegt sitzen.

Wenn jeder Mensch die Zeit einmal in seinem Leben anhalten könnte, würde ich diesen Augenblick für immer festhalten. Für immer in eine Sanduhr stecken, die nie, niemals abläuft.

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Für welchen Moment würdet ihr gerne die Sanduhr anhalten?

- liljaxxx & knownastheunknown - 

Feuerwerkحيث تعيش القصص. اكتشف الآن