10 - Palma

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PALMA

Ich merkte nicht, dass mir Tränen über die Wangen liefen, bis ich etwas Weiches an meinem Arm spürte. Leicht wandte ich den Kopf und sah auf die kleine, zarte Hand, die mir ein Taschentuch reichte. Eleanors Blick war nicht mitleidig oder entsetzt, sie ließ ihre Augen einfach ruhig auf meinem Gesicht ruhen und verzog ihre Lippen zu einem leichten, aufmunternden Lächeln.

Merci – Danke“, flüsterte ich leise, ließ mir meine Haare ins Gesicht fallen und versuchte, unauffällig meine Tränen abzutupfen. Ich war so aufgewühlt, dass ich schon in meine Muttersprache rutschte.

De rien“, antwortete sie leise und ich hob meine Mundwinkel ein wenig. Doch dann fielen mir Phils Worte wieder ein und ich spürte, wie sich ein schwerer Stein auf meine Brust legte.

So lange hatte ich die Gefühle vor mir hergeschoben, die der Tod meiner Mutter in mir ausgelöst hatte.
Hatte ausgeblendet, wie sehr ich ihre Stimme vermisste, ihre Finger in meinem Haar. Ihr Lachen, ihren Gesang und das Geräusch ihrer Füße auf den Fliesen unseres kleinen Bungalows, in dem ich laufen, sprechen und lieben gelernt hatte. Wie sehr ich es einfach vermisste, sie bei mir zu haben. Und sofort könnte ich wieder losheulen.

„Sollen wir fragen, ob wir kurz raus dürfen?“ Eleanor hatte anscheinend gemerkt, wie kurz ich davor stand, mich in einen strömenden Wasserfall zu verwandeln. Diese einfühlsame Seite an ihr war mir noch nie aufgefallen und sogleich fragte ich mich, welchen Teil von sich sie wohl noch versteckte. Ich zuckte ein  wenig zusammen, als sie ihre Hand zart auf meinen Arm legte und beinahe hätte sie sie zurückgezogen. Doch dann überlegte sie es sich anders und ließ sie liegen. Ich war noch nie so froh gewesen, die Hand von jemandem auf meinem Arm zu haben wie in diesem Moment.

Da ich auf ihre Frage nicht geantwortet hatte, schien sie einen Moment unschlüssig und hob dann zaghaft ihren Arm. Wenn bis jetzt noch niemand gemerkt hatte, dass etwas nicht in Ordnung war, dann hatten wir mit dieser Aktion alle Blicke auf uns gelenkt. Dass Eleanor sich einmal freiwillig meldete und etwas sagte, das gab es noch nie.

„Ja, Eleanor?“, unterbrach Miss O’Hara ihren Vortrag über Faust überrascht und schaute sie mit großen Augen an. Ich hielt den Blick gesenkt und ließ mir so viele Haare wie möglich ins Gesicht fallen, damit sie nicht die Tränenspuren auf meinen Wangen bemerkte.

„Dürfen Palma und ich kurz auf die Toilette gehen? Bitte?“, fragte Eleanor schüchtern, ihre Stimme war kaum lauter als ein Windhauch. Da ich beharrlich auf den Block vor mir starrte, den ich vor diesem verhängnisvollen Gedicht mit etlichen Kreisen bekritzelt hatte, konnte ich Miss O’Haras Gesichtsausdruck nicht sehen, als sie mich betrachtete. Doch anscheinend reichte allein der Anblick meines gesenkten Kopfes und die Tatsache, dass Eleanor etwas gesagt hatte, aus, um ihr die Dringlichkeit dieser Handlung bewusst zu machen.

„Dann geht schnell, ihr beiden.“ Nach diesen Worten hob sie ihre Stimme wieder und erklärte weiter, wieso Gretchen so eine wichtige Rolle in Goethes Stück spielte. Wie zwei Schatten huschten Eleanor und ich zur Tür, dicht hintereinander und darauf bedacht, nicht allzu sehr aufzufallen. Was wir vergessen konnten, denn ich spürte die Blicke der anderen in meinem Rücken und hörte das Tuscheln, das langsam einsetzte.

Nachdem Eleanor und ich endlich die Tür erreicht hatten und nun auf dem Schulflur standen, atmeten wir gleichzeitig erleichtert auf. Sie kicherte leise und warf mir verstohlen einen Blick zu.

„Geht es wieder?“ Ihre Stimme klang schon sicherer als zuvor im Klassenraum. Langsam schlenderten wir in Richtung der Toiletten. Ich würde so gerne wissen, was hinter ihrer Schale ist.

„Ja, danke. Du hättest das nicht tun müssen.“ Ich schenkte ihr ein kleines Lächeln, da ich genau wusste, wie schwer es ihr gefallen war, vor dem gesamten Kurs eine Bitte zu äußern. Wir setzten uns auf eine kleine Holzbank, die vor den vielen aneinander gereihten Waschbecken stand.

„Schon okay, ich hatte auch einen bescheuerten Tag heute.“ Nun guckte sie starr gerade aus an die Wand gegenüber von uns und ich wurde neugierig. Aber es war wohl nicht fair, sie nach ihrem Geheimnis zu fragen, bevor ich nicht meines preisgegeben hatte.

„Dieses Gedicht von Phil und Dex“, begann ich und zupfte nervös an einem Faden, der sich aus dem Loch meiner Jeans gelöst hatte. „Es hat mich an meine Mutter erinnert.“

Ich machte eine kleine Pause und merkte, dass es nun Eleanor war, die mich gespannt ansah. „Sie hat uns hierher nach Beckshill geschickt, als in Mali Krieg herrschte. Sie wollte nachkommen, wenn sie mehr Geld aufgetrieben hätte. Aber … aber sie hat es nie hierher geschafft.“ Ich unterdrückte ein Schluchzen und wischte mir schnell übers Gesicht.

Ich war keine Person, die oft weinte und  schon gar nicht vor anderen. Es vermittelte ein Zeichen von Schwäche und ich wollte nicht schwach sein. Ich war Palma und ich stand gerade und fest verwurzelt wie eine Palme im Wind.

„Hey“, meinte Eleanor und umarmte mich etwas unbeholfen, was gar nicht so einfach war, da wir nebeneinander auf der Bank saßen. Da kamen die Tränen nur noch mehr. Ich bin so lange nicht mehr umarmt worden, dachte ich und schlang meine Arme ebenfalls um Eleanors dünnen Körper, um ihr etwas von dieser Geborgenheit zu geben, die sie mir gerade schenkte.

Es war ein einzigartiger Moment. Einer von denen, die man, egal wie sehr man es sich wünscht, niemals noch einmal erlebt. Aber es war ein Moment für die Ewigkeit und dafür dankte ich Eleanor aus tiefstem Herzen, dass ich sie noch ein wenig fester drückte. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich hätte schwören können, dass sie in diesem Moment ein breites Grinsen auf dem Gesicht hatte. Ich habe sie noch nie so richtig lachen gehört.

Vorsichtig lösten wir uns wieder voneinander und schnieften uns mit roten Augen und laufenden Nasen an. Dass Eleanor auch angefangen hatte zu weinen, hatte ich gar nicht bemerkt.

„Und du? Was ist mit dir?“, fragte ich vorsichtig und wischte mir mit dem bereits vollgeheulten Taschentuch übers Gesicht. Das war das letzte Mal heute. Reiß dich zusammen, Palma.

„Ich weiß nicht, einfach kein guter Tag heute“, murmelte sie und dieser Hauch eines Lächelns, der ihr Gesicht zuvor umgeben hatte, verschwand augenblicklich. Ich wollte, dass es wiederkam, es stand ihr.

„Also, mein Tag war, wie du ja siehst, absolut traumhaft. So stelle ich mir jeden Tag vor, einfach magnifique.“ Ich machte einen großen Kussmund und schmatze übertrieben. Und da war es wieder, dieses sanfte Leuchten in ihren Augen, als sie grinste. Meine Wangen verzogen sich ebenfalls zu einem Lächeln und so saßen wir in dem kleinen, stickigen Toilettenräumchen und grinsten uns an wie zwei Hühner, während Miss O’Hara keine zwanzig Meter von uns entfernt der Klasse etwas darüber erzählte, dass Glück nicht kaufbar sei und allein davon abhing, ob man sein Leben glücklich oder traurig verbrachte.

Wie recht sie doch damit hatte.

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Es wird mal wieder Zeit für eine Frage:
Wer von uns ist eurer Meinung nach für Palmas Charakter verantwortlich? ;)

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now