48 - Clem

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CLEM

Mein Plan war eigentlich, es einfach zu verdrängen.

Ja, ich weiß, wie unglaubwürdig das ist. Allein die Vorstellung, dass ich vergessen könnte, dass ich Dex geküsst habe, ist lächerlich – trotzdem muss ich es versuchen, wenn ich den Verstand nicht ganz verlieren will. Aber vielleicht ist es dafür auch schon zu spät.

„Clem?" Blitzschnell drehe ich mich um, starre wie hypnotisiert auf die Zettel in Dex' Hand, um seinen Augen auszuweichen, und nehme den Stapel entgegen, bevor ich mich wieder umdrehe.

Die Angst, dass er meine Gedanken lesen könnte, wenn ich in seine Augen sehe, ist einfach viel zu groß. Wenn ich die Wahl hätte, mich hier und jetzt vor ihm splitterfasernackt auszuziehen oder ihn in meinen Kopf schauen zu lassen, würde ich mir die Klamotten vom Leib reißen, ohne weiter darüber nachzudenken. Damit würde ich viel weniger von mir preisgeben.

Ich kann ja nicht einmal genau sagen, wovor ich Angst habe. Ich weiß, ich bin nicht so eine Naturschönheit wie Nimy oder Maya, aber ich bin auch nicht hässlich. Mein Aussehen ist nicht das Problem; was mir Sorgen macht, bin ich.

Wenn ich einen Raum betrete, bringe ich ihn nicht zum Strahlen. Ich setze ihn höchstens in Brand.

„Wir fahren also am Donnerstag um acht Uhr los und werden voraussichtlich am Sonntag um siebzehn Uhr wieder in Beckshill sein. Ich gebe gleich die Liste wegen der Zimmer durch, in die ihr euch bitte eintragt. Es gibt Zweier- und Dreierzimmer – und ich muss hoffentlich nicht erwähnen, dass gemischte Konstellationen von Mädchen und Jungen nicht erlaubt sind." Miss O'Hara zieht belustigt die Augenbrauen hoch und fährt dann fort. Erst jetzt bekomme ich wieder mit, dass sie schon seit einer halben Stunde auf uns einredet. „Das Literaturfestival beginnt mit ein paar Lesungen und Frage-Antwort-Stunden. Ich hoffe, ihr nutzt die Gelegenheit, um euch mit erfolgreichen Autoren auszutauschen. Und auch wenn ihr Kritik an den Werken ausdrücken wollt: Bitte bleibt respektvoll." Damit wandern ihre Augen auffällig zu mir und Nimy lacht laut auf.

„Hey", murre ich und sehe sie böse an.

„Du musst schon zugeben, dass der Kommentar berechtigt ist." Sie versucht unbeschwert zu grinsen, doch es versetzt mir einen Stich, weil sie dabei nicht so natürlich aussieht wie früher. Fast krampfhaft zieht sie die Mundwinkel nach oben und auf ihrer Stirn bilden sich kleine Falten. Normalerweise würde sie stolz ihre Zähne zeigen und die Augen ein wenig zukneifen, ohne es zu merken. Ob sie weiß, dass ich ihr etwas verschweige? Würde sie es denn verstehen?

Dass ich mir diese Frage überhaupt stelle, erschwert mir ganz plötzlich das Luftholen wie ein Schlag gegen den Brustkorb.

Noah, der zu meiner Linken sitzt, gibt mir die Zimmerliste und wie neulich abgesprochen hat Maya uns schon zu dritt eingetragen. Ich lächle dem Rotschopf zu, so gut ich kann, und versuche ihm stumm zu sagen, dass seine Freundin es nicht bereuen wird, mit Nimy und mir das Zimmer zu teilen. Hoffe ich zumindest.

Wenig später läutet die Pausenglocke und als wir schon in Flur stehen, ruft Miss O'Hara uns noch hinterher: „Seid bitte pünktlich! Der Bus wartet nicht auf uns."

Mitten im Gang bleibe ich stehen und greife nach Nimys Arm, die, plötzlich aus ihrer Gedankenwelt gerissen, zusammenzuckt. „Können wir miteinander reden?"

„Sicher", sagt sie, doch der schuldbewusste Blick, den sie mir zuwirft, gleicht Bob, wenn er mal wieder Nimys Kopfkissen aus ihrem Bett gestohlen hat. Dabei bin ich es doch, die etwas ausgefressen hat.

„Gut. Ähm. Ich hab' nämlich – bitte frag mich nicht wieso-"

„Hey, Nimy!", unterbricht uns plötzlich der Kettenraucher, der für den ganzen Nebel in meinem Kopf verantwortlich ist. Er läuft mit einem Buch in der Hand auf uns zu. „Du hast das hier in der Klasse vergessen."

„Oh, danke, Dex. Ich war wohl mal wieder zu sehr in Gedanken versunken." Sie fährt sich mit ihrer Hand durch die braunen Locken und nimmt das Buch verlegen lächelnd entgegen.

„Keine Ursache." Er nickt und plötzlich spüre ich seinen Blick auf mir. Es ist das erste Mal seit Langem, dass ich ihn erwidere und ich erkenne sein Mitleid, als hätte er sich diese sieben Buchstaben auf die Stirn geschrieben.

Offensichtlich tue ich ihm leid, weil sich ein Teil von mir bescheuerte Hoffnungen macht, die er früher oder später ausradieren muss. Wenn sein Gesicht ein offenes Buch ist, dann steht sein Körper für eine ganze Bibliothek, in der ich lesen kann, wie sehr er es bereut, zufällig dort draußen im Schnee gestanden zu haben. Er blickt vorsichtig auf mich herab, als hätte er Angst, ich könnte zerbrechen oder ihm in die Eier treten, wenn er dieses Bereuen ausspricht. Die Augenbrauen eng zusammengezogen, den Kiefer angespannt, die Hände in den Hosentaschen vergraben und das Gewicht vom einen Bein aufs andere verlagernd, als würde er sich bereit machen, gleich um sein Leben zu rennen.

„Ist alles in Ordnung, Clem?"

Geh weg. Bitte. Wieso gehst du nicht einfach für immer weg und lässt mich in Ruhe, damit ich nicht mehr an dich denken muss?

„Ja, sicher. Wieso denn auch nicht?", sage ich kälter als beabsichtigt.

„Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen." Er zuckt mit den Schultern, scheint aber jederzeit bereit zur Flucht.

„Vielleicht habe ich das ja auch." Erhobenen Hauptes drehe ich ihm den Rücken zu und setze mich in Bewegung. Erst da fällt mir Nimy ein, die die ganze Szene beobachtet hat und sich jetzt wohl ihren Teil dazu denken kann. Ich hätte es ihr schon viel früher sagen sollen. Was ist bloß los mit mir? Was habe ich vor? Wo will ich überhaupt hin?

Jetzt kann ich nicht mehr verhindern, dass ein paar Tränen über mein Gesicht laufen, aber an dieser Schule kennt man mich. Eine Gruppe von Schülern sieht mich neugierig an, als ich an ihnen vorbeischreite, aber sie sind schlau genug, um den Blick nach wenigen Sekunden wieder abzuwenden. „Nimy?", frage ich laut, ohne mich noch einmal umzudrehen.

„Ich bin direkt hinter dir", erwidert sie ruhig und geht schließlich schneller, um aufzuholen. Als sie neben mir herläuft, legt sie den Arm um mich. Sie führt mich hinaus in den Hof und obwohl es bitterkalt ist und der Anblick des Schnees um uns herum das Brennen in meinen Augen und den Kloß in meinem Hals nur noch schlimmer macht, bin ich ihr dankbar. „Was auch immer das gerade war, ich bin mir sicher, das wird wieder."

Zwischen Rotz und Wasser bringe ich erstaunlicherweise sogar Worte hervor. „Du bist die einzige Person auf diesem verdammten Planeten, der ich diesen Satz jemals glauben könnte."

Meine beste Freundin reicht mir ein Taschentuch. „Ich hab' dich ewig nicht mehr weinen sehen."

„Ich hab' auch ewig nicht mehr geweint. Das ist einfach nur widerlich. Wieso weinen Menschen?"

„Weil es befreiend sein kann."

„Und widerlich."

„Und widerlich", wiederholt sie lachend und zieht mich enger an sich. „Wenn du so weit bist, reden wir."

„Das ist diesmal wirklich überfällig", gebe ich nickend zu; mit jedem Wort werde ich ein wenig leiser.

„Ja." Ein Blick aus dem Augenwinkel reicht aus und ich habe endgültig die Gewissheit. Ich bin nicht die Einzige von uns beiden, die versucht, etwas zu verdrängen.

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- liljaxxx & knownastheunknown - 

FeuerwerkWhere stories live. Discover now