30 - Palma

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PALMA

Der Wind treibt mir Tränen in die Augen, doch ich mache nicht Halt. Renne immer weiter, weiter und weiter geradeaus. Die Rufe, die meinen Mund verlassen, klingen nicht nach mir, sie klingen fordernd und kräftig, mutig und frohlockend. Zu ihnen kommen weitere hinzu, vermischen sich und werden etwas Neues, Reines. Etwas wirklich Echtes, noch ungeformt wie ein roher Diamant. Und mindestens genauso kostbar.

„Ahhhh", brüllt Phil aus ganzer Kehle, während wir den kleinen Hügel vor seinem Haus herunterrasen. „Du bringst uns noch um, Pam!"

„Sei keine Spaßbremse", necke ich ihn und ruckle ein wenig an den Griffen seines Rollstuhls, woraufhin Phil aufquiekt und sich panisch an seinen Armstützen festhält.

„Ich meine es ernst, Palma!"

Schnaufend kommen wir zum Stehen und schauen lachend den Hügel hinauf, den wir soeben in Lichtgeschwindigkeit überquert haben. Wenn man ihn sich nun ansieht, ist er wohl eher ein kleiner Buckel und ich kann mich nur wundern, warum wir so eine Freude daran gefunden haben, ihn zusammen hinunterzurollen.

Dabei kenne ich den Grund zu gut: es ist zu schön, Phil einmal glücklich und unbesorgt zu sehen. Für dieses Gesicht würde ich auch hundert Mal den Hügel mit ihm hinunterfahren, würde ihm hinterherrennen oder sogar Saltos schlagen – Hauptsache, es bringt ihn zum Lächeln.

„Was grübelst du, Ajana?" Phils blau-grüne Augen mustern mich intensiv, als wollten sie direkt in meine Seele blicken.

„Es ist wundervoll, dich so lächeln zu sehen, mon petit chou", sage ich ehrlich und füge seinen albernen Kosenamen, kleiner Kohlkopf, hinzu, damit er sich nicht sofort angegriffen fühlt. Seit dem Unfall weiß niemand mehr, wie Phil auf bestimmte Worte und Andeutungen reagiert. Für uns scheint es manchmal nichts zu sein und für ihn ist es eine riesen Sache; dann macht er zu und blockt jeden weiteren Versuch ab, über den Verlust seines Beines zu reden. Seines halben Beines.

„Ich fühle mich auch wundervoll, mon coeur", antwortet er aber heute ganz gelassen und grinst mich von einem Ohr zum anderen strahlend an. Mir fällt ein Stein vom Herzen und vorsichtig taste ich mich weiter vor.

„Dieses Gespräch ist schon lange überfällig und das weißt du auch, Phil." Kurz scheint ein Schatten über sein Gesicht zu rutschen, doch ich lasse mich davon nicht abschrecken. 

Zu lange schon bin ich, genau wie alle anderen, um ihn herumgeschlichen aus Angst, ihn aufzuregen oder zu verletzen, sollte ich den Unfall nur mit einem Wort erwähnen. Es ist erstaunlich, wie sehr man etwas ignorieren kann, was sich doch zugleich direkt vor der eigenen Nase befindet. Und noch viel erstaunlicher ist es, wie wirklich jeder mitmacht. Die Lehrer, Eltern, Freunde. Manchmal kann ich gar nicht glauben, wie viele Dinge wir nicht sagen, nur weil wir Angst davor haben, was passieren wird, wenn wir sie einmal ausgesprochen haben.

„Wie fühlst du dich?"

Phil schaut mich verblüfft an, als wäre das nicht die Frage, die er erwartet hat. „Wie ich mich fühle?"

Ich nicke, stelle seinen Rollstuhl mit dem Blick in die Sonne hin und setze mich vor ihn aufs Gras, damit er mir nicht versehentlich wegkullert. Kein Witz, so ein Rollstuhl ist schneller weg, als man schauen kann.

„Ich weiß nicht", murmelt Phil und klingt ehrlich nachdenklich. Nachdem wir uns eine Zeitlang stumm angeschaut haben, wendet er sein Gesicht der Sonne zu und schließt die Augen. Fast schon denke ich, dass ich ihn nun doch vergrault habe, da fängt er mit leiser Stimme an zu reden.

„Ich hasse die Welt." Überrascht über den abrupten Stimmungswechsel und den harten Ton, in dem er auf einmal spricht, zucke ich zusammen, verkneife mir aber eine Widerrede und tröstende Worte. Das hier ist jetzt Phils Moment, Phils schrei-alles-raus-Minute. Er hat bestimmt unglaublich viel zum Rausschreien, denke ich und werde wieder von Mitleid überrollt, dass ausgerechnet ihm, dem optimistischsten Jungen, den ich kenne, so etwas widerfahren musste.

„Ich hasse die Welt", beginnt er noch einmal, nun etwas ruhiger. „Ich hasse all die mitleidigen Blicke. Die geflüsterten Worte untereinander, wenn die Menschen denken, ich würde nicht zuhören. Ich habe meinen Unterschenkel verloren, aber nicht meine Ohren." Phil lacht hart und ich möchte ihm meine Hand aufs Knie legen, doch er stößt sie weg.

„Ich hasse es, dass ich nicht mehr Sport machen kann." Nun zittert seine Stimme und er öffnet die Augen, um mich anzusehen. Und ich sehe zum ersten Mal seit dem Unfall, wie er sich wirklich fühlt. Kann seinen Schmerz, die Trauer und die Wut beinahe mit den Händen greifen, als er sich auf den rechten Oberschenkel haut, bei dem der Rest des Beines fehlt. Bei dem ihm ein Teil von sich fehlt.

„Ich hasse es, dass ich nicht mehr rennen kann. Und springen und laufen und schwimmen. Dass ich Hilfe brauche, um, verdammt nochmal, aufs Klo zu gehen und es nur mit Mühe alleine in mein Bett schaffe. Dass ich an Bordsteinen hängenbleibe oder gar nicht erst auf sie hinaufkomme, weil sie zu hoch sind. Dass ich kleiner bin als wirklich jeder, selbst als Nimy und Clem."

Ich bin so ergriffen von seinen Worten, von den ganzen Emotionen, die er die ganze Zeit vor uns versteckt hat, dass ich zunächst gar nicht wahrnehme, wie die Tränen seine Wangen hinunterkullern. Erst sein Schluchzen, ein wahnsinnig herzzerreißender, stockender Ton, reißt mich aus meiner Trance und ich springe auf, um meine Arme um ihn zu schlingen. Was sich auch als Problem erweist, da es gar nicht so einfach ist, eine Person im Rollstuhl zu umarmen.

„Verdammt, noch nicht einmal umarmen kann man mich mehr", lacht Phil gequält und unter Tränen und bei diesem Ausruf ist es um mich geschehen. Nun heulen wir beide Rotz und Wasser, während ich mich vorsichtig auf sein rechtes Bein setze und meine Arme um ihn schlinge, um ihn festzuhalten. Sanft kraule ich ihm über den Rücken, wie ich es bei meinen Schwestern immer getan habe, wenn sie Bauchweh hatten, und einem Impuls folgend singe ich eines meiner afrikanischen Lieblingslieder, das mir meine Mutter immer zum Einschlafen gesungen hat.

„Was bedeutet Amali?", fragt Phil mich, nachdem wir uns beide wieder etwas beruhigt haben und ich das Lied zum dritten Mal anstimmen will.

„Ungefähr so viel wie starker Löwe", murmele ich leise und spüre, wie Phils Lippen sich an meinem Ohr langsam zu einem zaghaften Lächeln verziehen.

„Starker Löwe", wiederholt er und nun höre ich das Lächeln auch wieder in seiner Stimme. Ich lasse seinen Nacken los und wische mir über die Augen, um die letzten Tränenreste zu vernichten. Währenddessen hat Phil den für ihn typischen Humor wiedergefunden. „Du siehst wunderschön aus."

Erst verstehe ich nicht ganz, was er mir damit symbolisieren will, doch als ich ihn anschaue, seine geröteten Augen, die darunterliegenden Augenringe und die blasse Haut wahrnehme, kann ich nicht anders, als in lautes Gelächter auszubrechen.

„Du auch, definitiv." Phil stimmt in mein Lachen mit ein und deutet die Klauen eines Löwens an, mit denen er nach mir greift.

„Pass auf, was du sagst. Ich bin ein starker Löwe."

Augenblicklich werde ich ernst und blicke ihn fest an, damit er merkt, dass ich keine Witze mehr reiße. „Das bist du, Phil McKinley. Ein wirklicher Amali."

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Wie schafft Palma es bloß, für jeden dazusein? 
Solche Freunde braucht man. Die einem immer beistehen und einen aufheitern können, auch wenn die Dinge alles andere als rosig aussehen - wenn ihr so jemanden habt, dann lasst diese Person auf keinen Fall gehen ;)

- liljaxxx & knownastheunknown -

PS: Wer in Weihnachtsstimmung kommen möchte oder einfach nur Lust auf wunderschöne Texte hat, sollte mal bei liljaxxx vorbeischauen und ihren Adventkalender "Wie man eine Welt in Lametta einwickelt" lesen. 

FeuerwerkWhere stories live. Discover now