4 - Maya

390 46 31
                                    

MAYA

Ich saß im Schneidersitz auf Noahs Bett und versuchte, das Skript auf meinem Schoß zu lernen. Allerdings machte mein Freund es mir nicht besonders leicht, mich zu konzentrieren. Obwohl er auf Fußboden saß und somit eine gewisse Distanz zwischen uns gebracht hatte, zog er meine Gedanken von meinem Text für den Schauspielkurs weg und lenkte sie auf sich. Noah hatte sich am Bett angelehnt, sodass ich seinen rötlichen Haarschopf nur von hinten sehen konnte und seine weiche Stimme noch leiser wahrnahm.

Er strich gerade über die Saiten seiner schwarzen Gitarre und sang irgendeinen Text vor sich hin, den ich kaum verstand, weil er sich so bemühte, mich nicht beim Lernen zu stören. Obwohl ich mich für das Vorsprechen vorbereiten musste, hatte Noah darauf bestanden, Zeit mit mir zu verbringen, aber versprochen, mir nicht in die Quere zu kommen. Konnte ein Junge noch perfekter sein?

Ich schloss das kleine Heftchen, in dem der Text unserer Aufführung von Peter Pan stand, und verkündete seufzend: „Ich brauch eine Pause."

Sofort drehte Noah sich zu mir um und grinste mich an. „Weißt du denn jetzt, wie man nach Nimmerland fliegt, Wendy?"

„Ich bin mir nicht ganz sicher... Aber ich denke-" Ich machte eine Pause und krabbelte vom Bett herunter, um neben ihm auf dem Teppich Platz zu nehmen. Dann gab ich ihm einen kurzen Kuss. „Ich denke, dass sich Fliegen nicht so schwerelos anfühlt wie das hier."

Sein Grinsen wurde wenn möglich noch breiter und diese unfassbar angenehme Wärme erfüllte meinen ganzen Körper. Das war Noah: Wärme. Licht. Geborgenheit.

Er legte die Gitarre auf sein Bett, stand auf und hielt mir den Arm hin. „Lass uns rausgehen. Wir lungern schon den ganzen Nachmittag hier herum. Ein wenig frische Luft wird uns gut tun."

Ich ließ mich von ihm hochziehen und freute mich mal wieder, dass er nur zwei Zentimeter größer war als ich, was es um einiges leichter machte, ihn zu küssen. Seine Lippen fanden den Weg zu meinen und ich lächelte, während ich meine Hände hinter seinem Nacken verschränkte.

„Wollen wir wirklich nicht hier bleiben?", fragte ich nach, obwohl ich ziemlich sicher war, dass er darauf bestand, bei dem schönen Wetter draußen zu sein.

„Du kannst dich nicht auf ewig in diesen vier Wänden verstecken, Maya." Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und mein Herz machte bei der Berührung vor Freude ein paar Purzelbäume. Ich war das glücklichste Mädchen im ganzen Universum.

„Aber mir gefallen deine vier Wände", schmollte ich wie ein Kleinkind.

Er lachte. Ach, wie ich sein Lachen liebte. „Komm schon. Wir fahren ins Café und ich kaufe dir ein Stück Schokokuchen."

Ich zog die Augenbrauen zusammen und wusste, dass sich dort nun bestimmt eine Falte gebildet hatte. „Noah..."

„Ja ja, ich helfe dir schon. Du musst nicht den ganzen Kuchen essen", meinte er ruhig. Er wusste, dass ich sehr auf meine Ernährung achtete. Zurzeit war ich recht zufrieden mit meinem Körper, aber ich wollte auch, dass das so blieb. Noah hingegen meinte manchmal sogar, ich sei zu dünn. „Aber ein paar Bissen. Für mich."

Und da hatte er mich. Okay, er hatte mich schon immer. Ich gehörte zu ihm und er zu mir. Ein Leben ohne Noah war für mich so unvorstellbar, dass es wehtat. Mir war egal, wie kitschig das klang und wie besessen ich auf andere möglicherweise wirkte. Noah hatte zu mir gehalten, als ich dachte, der Himmel würde auf mich herabfallen. Ohne irgendeinen Hintergedanken hatte er mir geholfen und ich wusste, dass alle Zeit der Welt nicht ausreichen würde, um ihm das zurückzugeben, was er mir geschenkt hatte.

Bei unserem ersten richtigen Gespräch wog ich ungefähr gleich viel wie jetzt, war aber sicher fünfzehn Zentimeter kleiner, ich hatte einen üblen Hautausschlag und mein gesamtes Gesicht war rot angeschwollen, weil ich mir gerade die Seele aus dem Leib geheult hatte. Der Grund dafür war ziemlich simpel und hieß Rosalie. Rosalie war meine beste Freundin seit Kindergartenzeiten gewesen. Bis sie beschloss, dass ihr das dicke, hässliche Mädchen namens Maya nicht mehr cool genug war und sie neue Freunde brauchte. Rosalie freundete sich mit den „Beliebten" an. Den Sportskanonen, den Draufgängern, den Mädchen, die über Jungs und Schminke sprachen, statt sich für Bücher und Serien zu begeistern.

An besagtem Tag hatte Rosalie mir erklärt, dass wir nicht mehr befreundet sein konnten. Wir waren zwölf und ich erinnerte mich heute – fünf Jahre später – noch viel zu genau daran, wie es gewesen war. Ich traf sie zufällig am Klo, nachdem sie mir tagelang aus dem Weg gegangen war und sprach sie ganz normal an. Ich redete mir ein, dass alles so wie immer war, auch wenn ich natürlich mitbekommen hatte, dass sie nur noch selten mit mir sprach und in den Pausen immer wieder so tat, als würde sie mich am Schulflur nicht sehen.

„Wollen wir am Freitag mal wieder einen Film schauen oder so? Ich könnte einen Horrorfilm von meinem Bruder klauen. Der hat jetzt wieder ein paar neue, glaub ich." Nachdem ich über meinen Schatten gesprungen war und ihr dieses Angebot gemacht hatte, war ich so hoffnungsvoll und betete, dass alles wieder wie früher werden würde. Mein Herz klopfte viel zu laut und ich hatte sogar Angst, deswegen ihre Antwort nicht zu hören.

Aber Rosalie flüsterte, als könnte uns jemand belauschen: „Ich... Ich kann keine Zeit mehr mit dir verbringen, Maya. Die andern wollen mich nicht dabei haben, wenn sie mitkriegen, dass ich mit dir rumhänge."

„Wieso?"

„Weil..." Sie seufzte tief. „Weil du komisch bist. Schau dich doch mal an... Du siehst aus wie eins der drei kleinen Schweinchen und hast lauter komische Flecken auf der Haut. Und mit dir kann man über nichts Interessantes reden."

Ich sagte nichts dazu, sondern starrte sie nur an. Bis im nächsten Moment die Klotür aufging und Rosalie in einer der Kabinen verschwand. Von da an fühlte ich mich, als hätte sie mir in die Magengrube geschlagen. Gleichzeitig war mein Kopf wie leergefegt. Ferngesteuert verließ ich die Mädchentoiletten und merkte nicht einmal, dass ich schon längst angefangen hatte, zu heulen. Ich ging durchs Schulgebäude und verkroch mich schließlich im Pausenhof, wo niemand zu sehen war, da die nächste Stunde schon angefangen hatte.

Ich weinte wohl noch ein paar Minuten, bevor Noah hinauskam und sagte, er hätte mich durchs Fenster gesehen und nicht einfach vorbeigehen können. Schon damals saß eine große Brille auf seiner Nase und er fiel durch die rötlichen Haare und Sommersprossen auf. Er setzte sich zu mir und wir schwiegen einander an, bis meine Tränen versiegt waren, was bestimmt noch eine Weile dauerte.

Wenig später wurde Noah mein bester Freund.

Und drei Jahre später war mir klar geworden, dass ich mich in ihn verliebt hatte.

Deswegen fuhren wir heute – an diesem für Anfang Oktober ungewohnt sonnigen Tag – gemeinsam mit dem Rad durch Beckshill und betraten Hand in Hand das beliebte Café Just chill.

„Hey, Palma", begrüßte er das Mädchen aus unserem Literaturkurs, das scheinbar nachmittags hier arbeitete, freundlich. Ich lächelte ihr nur zögerlich zu, da sie etwas erschrocken dreinblickte und ließ mich von Noah zu einem Tisch am Fenster führen.

Ich ließ mich auf einem Stuhl gegenüber von ihm nieder und nahm ihm seine Brille ab, damit ich besser in seine blauen Augen blicken konnte. Er schnaubte lediglich amüsiert und erwiderte meinen intensiven Blick mit so viel Vertrauen, dass meine Knie erneut weich wurden.

----

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now