1~ Wie ich auf einmal mein ganzes Leben infrage stelle

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Sinja:

"Vater? Alles in Ordnung?" frage ich vorsichtig, als ich um die Ecke spähe. Mein Vater sitzt am Esstisch und ist über ein Blatt Papier gebeugt. Den Kopf in die Hände gestützt, in sich zusammengesunken. Er scheint die Worte so konzentriert zu lesen, dass er mich nicht kommen hört.

Zögerlich tapse ich auf ihn zu. Hat er wieder getrunken? Würde er gleich lallend aufstehen und binnen Kurzem wieder auf dem Boden zusammensacken? Würde ich ihn mühsam die Treppe hochschleppen müssen, wie ich es die letzten vielen Male getan habe?

Ja, ich habe das schon viel erlebt, er flüchtet in den Alkohol, will nichts mehr von der Welt wissen, will sich nur in seinem wunderbar befreienden Rausch befinden. Ich weiss, dass er es nicht böse meint, etwas belastet ihn. Der Tod seiner Frau, meiner Mutter. Und obwohl ich seine Tochter bin, scheine ich seinem gebrochenen Selbst nicht helfen zu können.

Nichtsdestotrotz versuche ich ihn zu unterstützen. Mit allen Mitteln und Wegen, die mir gegeben sind.

Weil er mein Vater ist und ich mich verpflichtet dazu fühle? Ja...

Weil er mir am Herzen liegt? Vielleicht...

Weil ich ihn als Vater liebe? Nein...

Ein guter Vater ist er nie wirklich gewesen und tief im Inneren weiss ich, dass er das auch niemals sein wird. Doch dennoch bleibe ich positiv, optimistisch, aufgestellt...meine Namen heissen wohl nicht grundlos kleine Sonne und das Licht.

Sinja Eileen

Meine Namen spiegeln eigentlich recht gut mein Gemüt wider. Ich bin immer fröhlich und sehe die schönen Dinge der Welt. Bin nett und freundlich zu allen, habe immer ein Lächeln auf den Lippen. Doch einen dritten Namen hätte ich schon gerne...einen frechen, witzigen, verrückten. Einen, der die andere Seite meines Wesens zeigt.

Die sarkastische, humorvolle, freche Sinja Eileen Archer. Die, vor der sich alle in Acht nehmen sollten, die ich aber nicht an die Oberfläche lasse...aus der Angst jemanden zu verletzen. Aus der Angst einen Schaden anzurichten, der sich nicht mehr reparieren lässt.

Doch kommen wir wieder zurück in die Realität, in das Hier und Jetzt!

"Vater?" frage ich noch einmal und lege vorsichtig meine Hand auf seine Schulter. Überrascht zuckt er zusammen und ich versuche mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Er hat nicht getrunken, sonst wäre seine Reaktionsfähigkeit um einiges träger.

"Sinja! D-du bist schon hier?" stellt er fest und sieht mich mit grossen, blutunterlaufenen Augen an. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er hastig das Blatt zusammenfaltet und beschützend die Hände darüberlegt.

"J-ja." Antworte ich verwirrt. "Ich habe dir doch erzählt, dass heute Clara meine Schicht übernimmt, da ich ihr letzthin ausgeholfen habe." Nach der Schule gehe ich immer in einem kleinen Café kellnern. Nicht, dass ich auf das verdiente Geld angewiesen wäre, aber zum einen will ich nicht von Vaters Geld abhängig sein und andererseits habe ich dann das Gefühl, etwas gutes zu tun.

Langsam nickt mein Vater und starrt ins Leere. Sein Blick scheint verschwommen zu sein und die Augen leicht angeschwollen. Hat er etwa geweint? "Geht...geht es dir gut?" besorgt mustere ich den Mann vor mir.

In den letzten zwölf Jahren seit meine Mutter verunglückt ist, scheint für seinen Körper ein ganzes Jahrhundert vergangen zu sein. Die Haare sind grau mit weissen Strähnen darin, überall in seinem Gesicht finden sich kleine Fältchen wieder und ich meine nicht die Lachfältchen...Allgemein strahlt er immer eine unglaubliche Müdigkeit aus, was für einen fünfzigjährigen Mann ungewohnt scheint.

Wie ich bin...Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz