62 | Ich muss nachdenken.

1.5K 295 56
                                    

Auch wenn ich jetzt im Bilde über Arthurs und Corins gemeinsame Vergangenheit bin, bringt mir diese Information überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil – sie sorgt sogar dafür, dass der Schmerz in meinem Brustkorb nun wieder unaufhörlich darin pocht und mich kaum atmen lässt.

Wieder einmal frage ich mich, warum das alles geschieht. Da ich nicht länger im Dunkeln verschwinde, gehe ich fest davon aus, dass der Zauber, oder wie auch immer man das nennen mag, der Arthur und mich verbunden hat, in dem Moment aufgehoben wurde, als Arthur aus meiner Tür verschwunden ist.

Was bedeutet das für mich?
Dass Arthur sich mich weggewünscht hat? Dann wäre ich doch aber sicherlich vollkommen verschwunden. Oder hätte er dafür auch eine Sternschnuppe gebraucht?

Hat er sich selbst von mir weggewünscht? Das vielleicht schon eher.

Da seit Tessas Abschied niemand Neues mehr das Café betreten hat, entscheide ich mich für einen sehr frühen Feierabend und schließe eilig die Eingangstür ab, ehe ich das kleine Schild am Griff mit der ‚Closed'-Aufschrift nach außen drehe.

Nicht einmal auf das Vorbereiten der Tische und Zuckerstreuer für morgen habe ich Lust, also nehme ich lediglich die Milch aus der Kaffeemaschine, stelle sie in den Kühlschrank und starte den Reinigungsprozess der Kaffeemaschine.

Zehn Minuten später liegt meine Baristaschürze achtlos über einem der Sessel und ich schließe die Eingangstür hinter mir.

Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll, aber für mich steht fest, dass ich nicht nach Hause möchte. Also gehe ich einfach die Straße entlang in die Richtung, in der ich den Strand weiß.

•••

Tatsächlich dauert mein Spaziergang zum Strand beinahe eineinhalb Stunden. Die Richtung war richtig, aber ich hatte wohl die Tatsache ignoriert, dass man sein Ziel mit dem Auto weitaus schneller erreicht als zu Fuß.

Da es heute etwas bedeckt ist, sind nur ein paar Spaziergänger unterwegs und ich finde problemlos einen Platz am Wasser.

Müde streife ich meine Schuhe und Socken von den Füßen und vergrabe meine Zehen im kühlen Sand.

Ich sollte mir überlegen, was ich mit meinem unerwarteten Leben anfangen möchte. Ich habe keine Vergangenheit, aber offensichtlich habe ich eine Zukunft, die ich selbst gestalten kann.

Mein Problem ist, dass ich mir eine Zukunft ohne Arthur nicht vorstellen kann. Ich bin traurig und enttäuscht, ich bin auch wütend auf ihn, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass ich ihn trotzdem noch liebe.

Ich möchte ihn gern anrufen oder zu seiner Wohnung gehen und mit ihm reden, aber irgendwie befürchte ich, dass er nicht mit mir reden wird. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht länger in der Dunkelheit verschwinde, wenn er nicht da ist, denn das muss bedeuten, dass ich wohl nicht länger die Erfüllung seines Wunsches bin. Oder er sich nun etwas–

Irgendetwas stupst gegen meinen Rücken und ich zucke überrascht zusammen. Als ich mich umdrehe, stelle ich fest, dass ein hellbrauner Hund mit seiner neugierigen Nase an mir herumschnuppert.

„Hey", lache ich und streichle vorsichtig über sein struppiges Fell. „Wer bist du denn?"

Natürlich antwortet er mir nicht, wedelt aber freudig mit dem Schwanz, während ich ihn kraule.

„Iris!", ruft eine dunkle Stimme und mein unerwarteter Besucher hebt lauschend den Kopf. „Kommst du gefälligst her!"

Der Hund ist offenbar eine Hündin, denn sie löst sich augenblicklich aus meinem sanften Griff und tollt fröhlich über den Sand zu ihrem Besitzer.

„Sorry", entschuldigt sich dieser. „Sie möchte einfach jeden zum Freund haben."

Der Mann ist augenscheinlich ein wenig älter als ich, hat dunkle Haare und auffallend hellgrüne Augen. Seine nackten Füße stecken wie meine im Sand, die Beine seiner Jeans sind etwas nach obengekrempelt.

„Ich habe nichts gegen neue Freunde", winke ich ab und muss unwillkürlich lächeln, als Iris erneut durchstartet und wie eine Rakete Runden über den Sand dreht.

„Man könnte meinen, es ist ihr erster Tag am Strand", lacht der Hundebesitzer. „Dabei kommen wir jeden Tag hierher."

„Ist doch toll, dass sie es so genießt."

„Sie sollten bei der Wahl Ihres Sitzplatzes hier vorsichtig sein", warnt er mich. „Hier ist der Hundestrand und nicht alle nehmen ihre ... Sachen wieder mit."

Erst jetzt sehe ich, dass er in seiner Hand eine Hundeleine und ein kleines Plastiktütchen hält, welches bereits gefüllt zu sein scheint.

„Oh", mache ich entsetzt und springe auf, versuche umständlich einen Blick auf mein Hinterteil zu werfen und klopfe eilig darauf herum.

„Hey, alles gut", lacht der Mann und klopft mir Sand vom Rücken. „Sie hatten Glück. Ich bin übrigens Janis." Freundlich hält er mir seine Hand entgegen.

Ich nehme sie und lache unbeholfen.
„Glück ist ja auch immer relativ", antworte ich und blicke in seine blassgrünen Augen. „Ich bin Felix."

„Da hast du recht, Felix", stimmt er mir zu. „Freut mich, dich kennenzulernen."

Wunschdenken | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt