Kapitel 2 - Der Singvogel

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Echo

Die Brücke zu überqueren war eine der Sachen, die ich an Orstella nervig fand. Es lag nicht daran, dass der Weg zu lang war, sondern es waren die abfälligen und verabscheuenden Blicke der Gardisten und wie sie sich absichtlich Zeit damit ließen den Ausweis zu kontrollieren. Das schlechte, fast vier Jahre alte Foto auf diesem zerfledderten Stück Papier war zwar noch gut mit mir zu vergleichen, dennoch ließen sich die Männer und Frauen mit den bronzefarbenen Brustharnischen gefühlt zwanzig Minuten lang Zeit, bevor sie mich durchließen. Und jedes Mal stand ich so kurz davor ihnen den Ausweis direkt vor die Augen zu schlagen, damit sie es besser erkennen konnten.

Auf der anderen Seite der Brücke begann der Ort der Schande, des Abschaums und die Müllhalde von Orstella oder auch anders genannt, das Viertel Ghost. Die Gebäude wirkten in sich zusammengefallen, ihre Fassaden waren brüchig und die abgekratzte Farbe war überdeckt von Schmutz und Staub. Manche Gebäude waren schon längst zerstört und mickrige Ersatze aus Holz mit metallenen Dächern standen an ihrer Stelle. Auch die Straßen waren etwas was man nicht mehr als Straße bezeichnen konnte. Der Asphalt war rissig, aufgebrochen, fehlte an manchen Stellen und war übersäht von Müll, von Papier bis zu zerbrochenen Bierflaschen. Und über allem lag der Geruch von Blut, Schweiß und Erbrochenem. Als ich an den ersten Häusern vorbeilief verzog ich kurz die Nase. Unglaublich wie stark sich doch der Geruch von einem Teil der Stadt zum anderen ändern konnte.

So richtig interessant mit der Umgebung wurde es im Westen und Süden von Ghost. In Süden befanden sich die alten Fabriken, in denen die Drogengangs ihr Zeug herstellten und durch die Ausgase der Fabriken den Himmel mit Smog befleckten. Und im Westen befand sich der alte Versorgungstunnel aus früherer Zeit, in dem die Menschen lebten, die nirgendwo in Orstella Platz hatten und dorthin fast schon verbannt worden waren – und ausgerechnet dort musste ich hin.

Das also war Ghost...Der Ort von Orstella, wo man niemals landen wollte und von wo man nur schwer entkam, wenn man erst einmal hier war. Jeder Scruffer sah es als eine Art Gefängnis an, was man aber dennoch jederzeit verlassen konnten. Nur konnte keiner in irgendeiner anderen Stadt oder in einem Dorf neu anfangen, weswegen es im Nachhinein besser war, hier zu sterben, anstatt irgendwo draußen in der Wildnis oder in einer fremden Stadt, wo Kreaturen die Leiche später auffraßen.

Auf meinem Weg durch die Straßen war ich umgeben von zwielichtigen und auch armseligen Gestalten. Viele trugen den Schmutz von Ghost mutig auf ihrer Haut, andere hatten versucht ihn mit dem wenigen Wasser, das einem zur Verfügung stand, abzuwaschen und hatten dadurch deutliche Spuren hinterlassen. Die Blicke, die man mir flüchtig zuwarf, waren meist dunkel und feindselig, denn hier hieß es ,,jeder gegen jeden".

Andere Blicke waren ängstlich und voller Sorge, letzteres besaß jeder Scruffer in einem bestimmten Grad in sich. Durch all diese Blicke musste ich meine Schritte beschleunigen und zuckte bei jedem fremden Geräusch ein wenig zusammen. Die Sonne war schon längst hinter den Gebäuden verschwunden und das Licht der alten, schwachen und verbogenen Straßenlaternen reichte nicht, um die ganze Straße zu erleuchten. Zudem kamen noch die ganzen dunklen Gassen an den Seiten, in denen sich Diebe und Schläger versteckten, um ein ahnungsloses Opfer zu überfallen. Manche wollten dabei hauptsächlich an Geld und andere Wertsachen kommen, andere waren gegen Geld beauftragt worden, um Informationen aus ihrem Opfer raus zu prügeln. Dadurch war es vor allem bei Nacht hier oben gefährlich, besonders für eine junge Frau wie mich.

Als ich um die nächste Ecke bog befand ich mich auf der Straße, die zum westlichen Tunnel führte, dessen weiten dunklen Schlund man schon am anderen Ende der Straße erkennen konnte. Wie ein hungriges Tier, das sein Maul öffnete, um die ahnungslose Beute zu verschlucken, die dumm genug war in das Maul einzutreten. Während ich allerdings so lief, bemerkte ich Schritte, die sich meinen eigenen anschlossen. Wäre ich in Advance, würde ich es weniger auffällig finden, aber hier in Ghost konnten solche verräterischen Schritte nur eins bedeuten.

Daegor - Blut und SchimmerWhere stories live. Discover now