Kapitel 3 - Die Kanäle

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Echo

Wenn man glaubte den schlimmsten Ort der Welt schon zu kennen, musste man meiner Meinung nach zuerst Mal eine Nacht im Tunnel überleben. Es war nicht nur ein Tunnel, in dem sich das schlimmste Gesindel von Ghost rumtrieb, es gab noch viele Wege und kleine Verzweigungen unterhalb, die die ausgetrockneten Abwasserkanäle miteinander verbanden. Dennoch war der Gestank, die Armut und die Ungerechtigkeit nicht zu ertragen. Der Gestank war sogar so schwer zu ertragen, dass ich mir jedes Mal beim Betreten des Tunnels mein abgenutztes Halstuch bis über die Nase zog, um in den Kanälen nicht durch den Gestank angewidert wieder umzudrehen und zu gehen.

Mit einem genervten Seufzen stieß ich einen angetrunkenen Kerl aus dem Weg und hielt die Augen nach flinken Taschendieben offen. Sie waren hier unten viel gerissener als in Advance. Hier unten hatten sie einen größeren Vorteil durch die stets anwesende Dunkelheit und fehlenden Gardisten, die sie bestrafen konnten. Das wenige Licht, was die hier lebenden Menschen abbekamen war das Licht von Fackeln und aufgehängten Runensteinen. Die Steine selbst leuchteten auf wie kleine Sonnen und waren in regelmäßigen Abständen an der feuchten Decke aufgehängt worden. Zusätzlich waren sie in ein paar Girlanden aus Lampions rein gearbeitet worden, die an den Wänden hingen oder von den Bewohnern über den Eingängen ihrer selbstgebauten Hütten aufgehängt worden waren.

Die Menschen in den Kanälen gingen in ihrer allgemeinen Ruhe ihrem ruhig aussehenden Leben nach. Anders als in Advance eilte hier niemand schnell von einem Ort zum anderen. Hier unten gab es eine Ruhe, die man selbst bis spät in die Nacht noch hören konnte und wie weiter man in die Kanäle eintrat, entschwand die gaunerische Armut und eine scheinbar friedliche Umgebung kam zum Vorschein.

Am Rande des feuchten und manchmal klebrigen Weges standen notdürftig zusammengebaut Stände. Die Leute hier verkauften hauptsächlich Sachen, die sie selbst gebauten hatten: Werkzeuge, kleine Figuren aus Holz und Metall, kleine Windspiele, Schmuck aus Steinen und Glas oder auch die beliebten Wunschbeeren, die in den Beeten der Kanäle angebaut wurden. Es gab allerdings auch Menschen die gerissen genug waren Sachen aus Advance billig zu kaufen, um sie dann hier unten teuer zu verkaufen. Ich hatte schnell herausfinden können welche Menschen so etwas taten und war noch nie in die Nähe vom Stand eines solchen Menschen gekommen.

Neben mir an der Kanalwand brach auf einmal eine Frau würgend zusammen. Ihr Kopf sackte nach vorne und stieß gegen ihre Brust, während sie langsam auf den Boden sank. Ich schaute ihr einen Augenblick lang aus dem Augenwinkel aus zu und fasste dabei an meine schmerzende Schulter - einen vielleicht ähnlichen Schmerz, hatte die Frau an ihren Lungen und in ihrem Herzen. Doch ich lief schnell weiter, helfen konnte ich sowieso nicht. So etwas sah man zudem nicht selten. Die mit Keimen und Dreck verseuchte Luft ließ mehrere Menschen am Tag zusammenbrechen und wer schwach war starb aufgrund dieses Zusammenbruchs, solange man keine Hilfe bekam. Krank zu werden geschah in den Kanälen oft und wurde für einen tödlich.

Neben der Frau kauerten noch weitere zitternde Gestalten in Nischen an den Wänden. Die hungernden und verdreckten Menschen hatten alles verloren, sie hatten mehr verloren als ich und sahen keine Möglichkeit sich ihren Besitz wieder zu holen. Aus diesem Grund versuchten sie ihre Trauer, Ängste, Enttäuschungen und Träume durch Alkohol oder Shimmer zu verdrängen. Trotz der schmutzigen Haut konnte man bei vielen die mit Einstichlöchern übersehenden Armen sehen.

Bei manchen der Menschen handelte es sich auch um die sogenannten Wanderer. Der Beruf eines Wanderers war etwas, was sich nur naive, dumme und hoffnungslosen Menschen trauten, denn diese Aufgabe konnte man vergleichen mit einem Selbstmordkommando. Wanderer zogen durch die Wildnis aller fünf Reiche, um private Lieferungen zu transportieren, Botschaften zu überbringen oder sonst alles zu erledigen, für was man sie bezahlte. Sie waren so etwas wie Söldner, nur gab es für sie keinen Kodex, an den sie sich zu halten hatten, sondern sie besaßen nur eine Regel: Überlebe. Diese eiserne Regel war wichtig, da sie in der feindlichen Wildnis auf keine Unterstützung hoffen dürften und sie in Gefahr waren auf Daegors und andere Kreaturen zu treffen.

Daegor - Blut und SchimmerWhere stories live. Discover now