Kapitel 30 - Der Abtrünnige

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Fynch

Anhalten war keine Option, zumindest noch nicht so früh. Als die Sonne aufging hatten wir schon lange den Schutz der Wälder erreicht. So schnell wie die Umgebung während der Dunkelheit und zum Anbruch des Tages an mir vorbeigerauscht war, hätte ich beinah meine Orientierung verloren. Erst ein umfassender Blick durch meinen Ræna half mir dabei zu erkennen wo genau wir uns nun befanden. Efeu war einer Spur Richtung Süden gefolgt, das Ziel der Blinden Gesellschaft musste meiner Ansicht nach Prodias sein, was bei einer Flucht vor dem Imperium eine sichere Etappe war. Vermutlich reisten sie mit einem Luftschiff, aber selbst eine kilometerweite Höhe hielt den Geruchssinn eines Sha'Kmals nicht auf.

Ungefähr eine Stunde nach Sonnenaufgang wagte ich eine Pause. Während Sommer und Efeu sich die Mägen mit Baumrinde und Wurzeln füllten, so gönnte ich mir nur ein paar Schlucke Wasser. Sollte es wirklich nach Prodias gehen, so würde ich dank seiner kargen Landschaft jeden Bissen meines Proviants noch brauchen. Nach nur wenigen Minuten ging es weiter.

Ich fragte mich ob, dass Imperium schon die Suche nach mir begonnen hatte. Das Sommer und Efeu bei dem Sha'Kmal-Aufstand verschwunden waren, war vermutlich schnell erkannt worden. Wenn dann mein halbleeres Zimmer und mein eigenes Verschwinden entdeckt worden waren, so war die Sache klar gewesen – vor allem Sommer würde ohne mich niemals einfach so verschwinden.

Wen hatte man wohl nach mir los geschickt? Soldaten? Söldner und Kopfgeldjäger? Oder vielleicht auch die anderen Scalras?

Hoffentlich war nicht Alistairs Mithilfe aufgedeckt worden. Ich vertraute darauf, dass Alistair selbst nichts sagen würde, aber selbst bei verräterischen Scalras machte das Imperium nicht Halt vor Folter. Vermutlich würde man gleich zur stärksten Folter greifen in Form eines Geist-Beschwörers.

Was würden wohl m die anderen Scalras über mich denken? Vermutlich war ich in den Augen der meisten nun zu einem Landesverräter und Abtrünnigen geworden. Sollten meine Geschwister mich jagen, so würden sie durch ihren eigenen Ziehbruder eine Belohnung und ein hohes Ansehen im Imperium bekommen. Jacomo und Sasha würde ich sofort zutrauen mich mit zusätzlicher Freude zu jagen – die würden sich sogar gegenseitig zerfetzen, würde das Imperium es ihnen befehlen.

Was Caitlain und Mikhael nun wohl von mir hielten? Gestern hatte ich sie durch mein Schweigen und wenigem vertrauen verletzt, nun war ich hinter ihrem Rücken zu einem Abtrünnigen geworden. Ob sie mich mit genauso viel Loyalität zum Imperium suchen würden? Meine Erfahrungen sagten ja, meine Gefühle hofften das Gegenteil.

Gegen Mittag wurde Efeu langsamer. Wir durchquerten im ruhigen Tempo einen weiten Nadelwald, die alten abgefallenen Nadeln knacksten und raschelten dabei unter den Klauen der Drachen. Der Wald trug den Namen Irrwald und die gigantischen Bäume mit den dicken Stämmen und Ästen wurden Riesennadeln genannt. Abseits der Handelsstraße – der einzige Weg, der durch den Wald führte – konnte man sich leicht verirren und Nachrichten über verschwundene Reisenden aus der Gegend waren schon öfters vorgekommen. Manche Verirrten hatten das Glück nach ein paar Tagen gefunden zu werden: Schwach, müde und ausgehungert. Zu viele von ihnen wurden allerdings Opfer der Wölfe oder Schattenfresser oder gar Banditen. Unschlüssig blieb Efeu nach einer Weile stehen. Er streckte die schmale Schnauze in die Luft und beschnupperte den belegten Boden. Mit einem leisen Glucksen blickte er zu mir und Sommer nach hinten, wobei er unsicher mit den Ohren zuckte.

Seufzend glitt ich von Sommers Rücken. Mit stampfenden Schritten trat ich neben Efeu und tätschelte ihm den Kopf. Stumme Worte hangen in der Luft, Worte die nichts gutes verhießen. Efeu hatte die Spur verloren. Irgendetwas musste geschehen sein, wodurch sich Echos Duft verändert hatte.

,,Das wird schon", murmelte ich und klopfte Efeues Hals. ,,Machen wir langsamer, dann findet sich die Spur hoffentlich wieder."

Obwohl meine Worte sicher klangen, so war ich selbst nicht von den Worten überzeugt. Unsicher blickte ich zum Himmel, als ich zurück zu Sommer ging und aufstieg. Bevor wir in den Wald gekommen waren, hatte ich graue Wolken am Himmel gesehen. Es waren nur wenige und dazu auch nur kleine gewesen, aber Regen- oder Gewitterwolken konnten größer und stärker werden und durch Regen konnte eine Geruchsspur vollständig zerstört werden.

Daegor - Blut und SchimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt