Kapitel 17.1 - Erinnerung und Traum

44 4 0
                                    

Echo

Lachend rannte Violet durch das Dorf. Über den plattgedrückten Weg im Gras, rannte sie zwischen den niedrigen Hütten umher und wich anderen Dorfbewohnern aus. Ihr Blick war dabei stets auf den Ræna gerichtet, der über ihr durch die Luft flatterte. Der Ræna sah bis auf die klugen, strahlend blauen Augen genauso aus wie eine Gans und machte auch die gleichen schnatternden Geräusche. Aber diese weiße Gans war nicht normal, weswegen sie auch bei dem Fangspiel der zwei Kindern mitmachte. Hinter Violet rannte ihr Bruder Benny her, um genauso wie sie irgendwie die Gans zu erwischen. Er war vier Jahre alt und konnte dennoch gut mithalten. Beide Kinder lachten, streckten die Arme aus und versuchten den Vogel zu fangen – aber jedes Mal stieß sich die Gans in die Luft, bevor vier gierige Hände ihr weiches Gefieder berühren konnten.

Während die Kinder spielten, ging das Dorf seinem gewohnten Leben nach. Andere Kinder spielten mit Murmeln und Steinen oder hörten den Geschichten der Ältesten zu. Und die Erwachsenen arbeiteten: Auf den Feldern um dem Dorf herum wurde das Gemüse und Weizen geerntet; die Vieherden wurden bewacht und Kühe und Ziege gemolken; es wurde an hölzernen Webrahmen gearbeitet und aus den Fellen der erjagten Tiere wurde Kleidung hergestellt. Am Rande des Dorfes waren sieben Männer dabei aus Holz und Stroh zwei Häuser zu reparieren, die durch den gestrigen Sturm beschädigt worden waren. Es war ein genauso ruhiger Tag wie gestern und davor und davor und jeder Bewohner des Dorfes war dankbar darüber.

Der Ræna und die beiden Kinder hatten inzwischen den Rand vom Dorf erreicht. Sie liefen immer weiter raus aufs Feld, ließen die kleinen Häuser hinter sich und liefen an den Weiden mit den Schafen vorbei. Violet hörte wie einer der Hirten ihnen begrüßend zurief, aber sie war zu sehr ins Spiel vertieft, um ihm zu antworten. Dabei bemerkte sie dennoch, wie weit sie sich langsam vom Dorf entfernten. Auch der Ræna wusste das er die Kinder nicht zu weit vom Dorf wegführen dürfte, aber auch ihm gefiel dieses Spiel, weswegen er kaum Rücksicht darauf nehmen konnte.

,,Ich habe ihn fast!", rief Violet fast schon außer Atem. Ihr dunkles Haar mit den immer heller werdenden Spitzen wehte als Schleier hinter ihr her.

Verbissen versuchte Violet noch schneller zu laufen und ignorierte den leichten, stechenden Schmerz in ihren Beinen. Als sie wieder nah beim Ræna war streckte sie wie zuvor die Arme aus. Der Vogel stieß sich wie erwartet in die Luft, doch dieses Mal sprang das Mädchen hoch und schaffte es tatsächlich mit den Fingerspitzen ein paar Federn gerade so zu berühren. Die Gans schnatterte erfreut und auch ein wenig enttäuscht über den Fang, der das vorläufige Ende des Spiels bedeutete. Sie blieb aber weiterhin in der Luft und zog ihre Kreise über den Köpfen der Kinder.

Keuchend stützte Violet die Arme auf den Oberschenkeln ab. Strähnen fielen ihr ins Gesicht und zwischen ihnen hindurch konnte sie zu Benny schauen, der genauso atemlos war wie sie. Genauso wie bei ihr, klebte Bennys Kleidung an seinem verschwitzten Körper und seine Haare waren klebrig und nass. Er besaß eine ähnliche Haarfarbe wie seine Schwester, nur sahen die hellen Spitzen bei seiner kurzen, verstrubbelten Frisur etwas komisch aus.

Nachdem die beiden Kinder für ein paar Minuten einfach nur geatmet und sich vom Laufen erholt hatten, schauten sie sich an. Ein fast schon identisches Paar aus gräulich blauen Augen blickte sich gegenseitig an. Und dann fingen beide an zu lachen und stimmten somit in das gleichmäßige Zirpen der Grillen mit ein, die um sie herum im Gras hockten.

Mit einem Mal erstarb allerdings das Zirpen. Während Benny weiterlachte und dann begann über irgendetwas zu reden, hielt Violet inne. Verwirrt schaute sie sich um. Wenn Grillen mit ihrem Gesang aufhörten, hieß es meistens das irgendetwas kam – irgendetwas großes, vielleicht auch etwas Gefährliches.

Daegor - Blut und SchimmerWhere stories live. Discover now