*(54) Unerwartet*

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Du kannst dir bloß dessen sicher sein, dass nichts sicher ist.

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Eine Schauckel war im Hintergrund. Ein großer, dunkelhaariger Mann stand davor. Er hatte einen kleinen Jungen auf den Schultern, der sich lachend in seinen Haaren festkrallte. Die Frau neben ihm hatte ebenfalls ein Kind auf dem Arm. Es war jünger als das andere, sah aber nicht weniger glücklich aus.

Ich starrte lange auf dieses Bild und versuchte zu begreifen, dass das meine Familie war. 

Die Frau sah aus wie meine Mutter, der Mann sah aus wie mein Vater, der Junge auf seinen Schultern sah aus wie mein Bruder und das Kleinkind sah aus wie ich. Aber irgendetwas in mir weigerte sich zu verstehen, dass diese Situation jemals so stattgefunden hatte. Dass ich einmal eine Familie gehabt hatte.

"Ich habe das immer dabei", sagte Markus nach einer Weile leise. "Deshalb ist es so verknittert."

Er hatte es vor mir auf den Tisch gelegt, aber ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, es in die Hand zu nehmen. Es aus der Ferne zu beobachten hatte mir gereicht.

Ganz egal, was auf diesem Bild abgebildet war, es war Vergangenheit. Ich war nicht mehr das kleine Kind und Markus war nicht mehr mein großer Bruder. Dazu hatte ich schon zu lange geglaubt, dass ich ihn verloren hatte.

Nein. Ich hatte ihn nicht verloren. Jemand hatte ihn aus den Armen meiner Eltern gerissen und mitgenommen. Das war nicht passiert. Jemand hatte das getan. Das war real.

"Wer waren die Leute?", war das erste, das ich zu ihm sagte.

Er schaute mich wortlos an.

"Die, die dich mitgenommen haben. Wer waren die?"

Er rutschte auf dem Sofa zurück, seine Ellenbogen nach wie vor an seinen Knien und sein Blick auf mir. "Ich verstehe, dass dich das interessiert, aber ich will nicht wirklich darüber reden."

Ich schnaubte. "Was willst du dann?"

Ich konnte mir selbst nicht erklären, weshalb ich ihm gegenüber so feindlich eingestellt war. Der Gedanken, dass das mein Bruder sein sollte, fühlte sich einfach falsch an.

Was Geschwister so besonders machte, war nicht unbedingt, dass die gleiche Eltern und Gene hatten, sondern, dass sie zusammen aufgewachsen waren. Geschwister waren fester Bestandteil des eigenen Lebens, selbst, wenn man sie nicht täglich sah oder mit ihnen redete.

Dass sich unsere Wege getrennt hatten, war so lange her, dass ich mich nur noch daran erinnern konnte, wie mein Leben ohne ihn ausgesehen hatte.

Markus war ein Fremder für mich. Und ich für ihn.

"Marlon..." Damian rutschte näher zu mir und legte seine Hand auf mein Knie.

Instinktiv wusste ich, dass er mich besänftigen wollte. Aber dazu war ich nicht bereit.

"Du wirst wohl kaum erwartet haben, dass ich dir um den Hals falle und so tue als wärst du nicht für 14 Jahre verschollen gewesen?", sagte ich zu Markus, ohne meinem Freund Beachtung zu schenken.

Markus richtete sich auf und strich sich völlig überflüssig über seine zurückgegelten Haare, während er durchatmete. "Damian hat mich ausfindig gemacht und mir von dir erzählt. Ich wusste nicht, dass du..." Er schluckte. "Ich wusste nicht, dass du noch am Leben bist. Sonst hätte ich schon viel früher Kontakt zu dir aufgenommen."

"Wie soll ich dir auch nur ein Wort glauben, wenn du mir nicht sagst, was damals passiert ist? So viel ich weiß, wurdest du entführt. Wie bist du entkommen? Seit wann bist du frei? Was ist aus diesen Leuten geworden?"

Ich wusste, dass Markus darauf keine Antwort hatte. Zumindest keine, die ich akzeptieren würde.

Ich stellte diese Frage nicht nur an ihn, sondern auch an mich selbst.

Markus war derjenige, der von fremden Männern aus seinem behüteten Zuhause gerissen worden war. Ich war derjenige, der sich versteckt und dabei zugesehen hatte. Ich war zurückgeblieben. Meine Tante hatte mich aufgezogen und mir alles gegeben, was sie hatte geben können.

Bilder von meiner Familie waren kein Teil davon gewesen. Dazu war der Verlust für meine Tante zu schmerzhaft gewesen. 

Wir hatten einfach so getan, als hätte es meine Eltern und meinen Bruder nie gegeben. Wir hatten weitergemacht als wäre nichts passiert. Wir hatten nie darüber geredet. Es verdrängt. Weil, allein daran zu denken, zu gefährlich gewesen war. 

Vielleicht hatte ich deshalb den Verstand verloren. Weil ein Teil von mir immer gewusst hatte, dass ich war, wo ich nicht sein sollte. Weil ich andere Kinder um ihre Eltern beneidet hatte, um ihre Erfahrung, bei hnen aufzuwachsen. Weil ich mir vorgestellt hatte, einen großen Bruder zu haben, zu dem ich gehen konnte, wenn Torben mich ärgerte. Der mich beschützte. Bei dem ich sicher war. Weil ich nicht sagen konnte, welche Bilder in meinem Kopf Erinnerungen waren und welche Alptäume. Weil ich die Option, dass es nicht echt war, gebraucht hatte, um das, was ich mitangesehen hatte, zu überleben. Selbst, wenn sich das verselbstständigt hatte und mich direkt in den vollkommenen Realitätsverlust geritten hatte. 

Dass Markus dieses Bild hatte, machte mich wütend. Warum hatte ich nie ein Bild von unserer Familie gesehen? Warum nahm er es überall mit ihn und ließ zu, dass es verknitterte? Trauerte er dem Leben hinterher, das er gehabt hätte, wenn wir an diesem Abend nicht zuhause gewesen wären? Wenn nichts passiert wäre?

Vielleicht tat ich das auch. Vielleicht war Markus die personifizierte Erinnerung an das Trauma, das unangetastet in mir schlummerte und endlich Beachtung finden wollte. Vielleicht hatte ich deshalb vor, ihn zu ignorieren.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt