*(26) Rätsel*

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Er ist ein Rätsel, das du nie vollständig lösen willst.

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Als ich an diesem Morgen zur Schule kam, standen Damian und Nick bereits an dem Tisch, den meine Freunde und ich morgens oft belagerten. Alisha und Finn saßen bei ihnen. Nick hatte einen Arm um Finn geschlungen, Finn kuschelte sich an ihn und redete mit Alisha. Sie saß mit dem Gesicht zu den Turteltauben und Damian mit dem Rücken.

Mein Blick setzte sich an ihm fest. Er erkannte mich sofort. Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen, während er mir dabei zusah, wie ich zu ihm kam.

„Marlon!" Finn streckte sich, um mir über Alishas Kopf hinweg zu winken. „Komm schnell!"

Trotz der Aufforderung machte ich mir keine Mühe, schneller zu laufen. Mir war wichtiger, dass ich cool aussah. Ich wollte nicht riskieren ins Stolpern oder Straucheln zu geraten. Nicht solange Damian mich anschaute.

„Was gibt's?" Ich blieb hinter Alisha stehen.

„Wir sind am Überlegen, wann wir Nick und Damian die Bahn zeigen. Wann hast du Lust?"

„Kommt drauf an, wann mein Bike fertig ist. Das weißt du wahrscheinlich besser als ich."

„Stimmt", sagte Finn nachdenklich. „Ich frage meinen Dad, wie der Status ist. Er hat ewig auf Ersatzteile gewartet, bei denen es ständig Probleme mit der Lieferung gab. Falls es noch dauert, willst du trotzdem mitzukommen?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Schon. Dann kann ich halt nur nicht fahren."

„Wir könnten Damian und Nick erstmal die Basics beibringen, bevor du sie abhängst", grinste mein bester Freund.

„Du tust so als würdest du nicht besser Motocross fahren als du laufen kannst."

„Hey, mein Dad sagt, du hast Talent! Das hat er über mich nie gesagt."

„Dafür hast du Erfahrung", entgegnete ich. Erfahrung, die in wichtigen Momenten über die ausschlaggebenden Millisekunden entscheiden konnte.

Alisha schnalzte mit der Zunge: „Seid ihr dann jetzt fertig, euch gegenseitig den Arsch zu lecken?"

Ich beugte mich zu ihr runter und umarmte sie, was aufgrund der Position mehr darauf hinauslief, dass ich sie in meinen Armen erstickte. „Fühlst du dich etwa vernachlässigt?"

Sie tätschelte meinen Unterarm und flüsterte. „Ich nicht, aber eure Verehrer."

Sie drehte das Gesicht zu mir und deutete mit einem Nicken in Damians Richtung.

Er saß genauso da, wie vorhin. Nur ohne sein Grinsen.

„Hey", sagte ich zu ihm, während ich von Alisha abließ.

Wortlos nickte er mir zu.

„Kann ich mit dir reden?"

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Willst du nicht weiter Finns Arsch lecken?"

„Das überlasse ich Nick."

„Ist mir eine Ehre", kam von Damians Pflegebruder.

Finn kicherte daraufhin dämlich.

Wir ignorierten sie beide.

Nach einigen Sekunden des stillen Blickkontakts, brummte Damian: „Na schön."

Er stand auf und wir liefen gemeinsam über den Pausenhof, um das Schulgebäude herum, an den Platz, an dem Damian seine ersten Wochen an der Schule allein und in Ruhe verbracht hatte.

„Ich wollte dir die Liste geben", meinte ich, während ich meinen Rucksack auf der Mauer abstellte und einen schmalen Ordner rausholte, indem ich Blätter aus meiner Therapie zusammengeheftet hatte. „Es sind auch noch ein paar andere Infos dabei, die vielleicht nützlich sein können. So Gefühlsmanagement und so. Schau es dir einfach mal durch. Die Liste mit den Skills schicke ich dir nochmal per WhatsApp, damit du sie immer auf dem Handy hast, okay?"

Damian nahm den Ordner an sich und schaute darauf, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte. „Hast du das gestern Abend noch gemacht?"

Seine zwischenzeitliche Distanziertheit war verflogen. Übrig war nur noch Verwunderung.

„War ganz gut, dass ich vor dem Schlafen nochmal eine Ablenkung hatte."

Er steckte den Ordner vorsichtig in seinen Rucksack und fragte: „Wovon?"

„Meiner Tante. Mir selbst."

Er legte fragend den Kopf schief, so als könnte er weitere Antworten bekommen, wenn er mich aus einer anderen Perspektive ansah.

„Ich wollte ihre Hilfe, meinen Kopf zu sortieren. Herauszufinden, was wirkliche Erinnerungen sind und was ich mir nur zusammenspinne. Sie wollte nicht darüber reden."

„Warum?"

„Es klang so als wäre die Wahrheit schlimmer als alles, was ich mir zusammenfantasieren könnte."

„Weiß nicht", meinte er zweifelnd. „Ich glaube, du kannst schon richtig heftige Scheiße zusammenfantasieren."

Aus seinem Mund klang das wie ein Kompliment.

„Vielleicht ist es gut so wie es ist", seufzte ich. „Zu wissen, was passiert ist, würde ja nichts daran ändern, dass es passiert ist. Meine Eltern sind tot und das bleiben sie auch. Damit komme ich eigentlich auch klar... Das einzige, was mich beschäftigt, ist, was aus meinem Bruder geworden ist. Dass er vielleicht noch irgendwo da draußen sein könnte."

Damian kam nicht dazu zu antworten. Der laute Gong vom Inneren des Schulhauses verwies auf die beginnende Stunde.

Damian warf der Schule einen finsteren Blick zu, der jedes Lebewesen in die Flucht geschlagen hätte, bevor er sich mit sanftem Ausdruck an mich wandte.

„Merk dir, wo wir stehen geblieben sind. Ich will, dass du mir alles erzählst, woran du glaubst, dich zu erinnern. Egal, wie wahr oder unwahr. Vielleicht kriegen wir zusammen Ordnung in das Chaos in deinem Kopf. Wenn nicht, dann hattest du zumindest eine Chance, mal mit jemandem über deine Familie zu reden."

„Du musst dir das nicht anhören. Du hast genügend eigene Sorgen."

„Meine Sorgen langweilen mich langsam", behauptete er. „Deine haben wenigstens Charakter."

Ich hatte keine Ahnung, was er mir damit sagen wollte. Trotzdem brachte es mich zum Lachen.

Er grinste zufrieden, schulterte seinen Rucksack und hielt mir meinen hin.

Wir liefen zusammen ins Schulhaus, in unseren ersten Kurs und verbrachten auch den Rest des Tages gemeinsam.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt