*(15) Keine Erklärung*

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Du kannst nichts erklären, das du selbst nicht verstehst.

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In meiner Logik ergab es absolut Sinn, in den Wald zu gehen und zu hoffen, dass mir eine Raubkatze begegnen würde, um mich von Damian abzulenken.

Natürlich konnte ich das keinem anderen erklären.

Ich log mir die Nase lang, um Finn davon zu überzeugen, mich mitzunehmen, als er am Freitagnachmittag zu Nick ging, und mich dann alleine in den Wald gehen zu lassen.

Die beste Geschichte, die mir eingefallen war, war, dass ich meine Kopfhörer nicht mehr finden konnte und vermutete, dass ich sie letzte Woche im Wald hinter Damians Haus verloren hatte.

Er versuchte zuerst, mich davon zu überzeugen, meine Tante zu fragen, ob sie mir neue kaufte und bestand dann darauf, mich in den Wald zu begleiten und beim Suchen zu helfen.

Es kostete mich extrem viel Mühe, ihn von diesen Ideen abzubringen und davon zu überzeugen, mich alleine gehen zu lassen. Schließlich stimmte er zu, unter der Bedingung, dass ich nicht mehr als eine Stunde suchen und danach zu Nick kommen würde.

Falls ich mich nicht daranhielt, so hatte er gedroht, würde er mich in Zukunft überall hinbegleiten. Auch auf Toilette. Erst recht auf Toilette.

Finn parkte in Nicks Einfahrt. Ich brachte ihn zur Tür, wartete, bis Nick ihn reingebeten hatte und lief um das Haus herum, in Richtung Wald.

Im Gegensatz zum letzten Mal war es heute deutlich heller draußen und nicht halb so kalt.

Ich versuchte denselben Weg zu laufen, den ich beim letzten Mal gegangen war, damit ich ungefähr wusste, wie ich wieder zurückkam. Diesmal machte ich auch nicht den Fehler, kreuz und quer zu laufen. Ich nahm mir eine Richtung vor und folgte dieser so gut es ging.

Bald war ich weit über den Punkt hinaus, an dem ich den Panther letzte Woche getroffen hatte. Der Wald wurde dichter, aber ich hatte die Orientierung noch nicht verloren.

Ich dachte darüber nach, es mit seinem Pspsps zu versuchen, zweifelte aber daran, dass das bei Raubkatzen funktionierte.

Ich wollte noch ein bisschen weiter in den Wald hineingehen. Aber etwas brachte mich dazu innezuhalten. Eine Stimme. Seine Stimme.

„Nicht schon wieder. Nicht schon fucking wieder."

Er klang so ängstlich, dass ich im ersten Moment gar nicht glauben konnte, dass er es war.

Ein paar Schritte nach links und ich konnte ihn sehen. Er riss sich seinen Hoodie, mit samt dem Shirt darunter, über den Kopf, ließ beides auf den Boden fallen und kickte noch währenddessen seine Schuhe von den Füßen.

Mit einem Schrei klappte er zusammen, keuchte laut und schmerzerfüllt.

Instinktiv machte ich einen Schritt zu ihm. Dabei trat ich auf einen Ast, der unter meinem Gesicht zerbrach und mich leicht zum Einknicken brachte. Ich fiel nicht hin, geriet aber ins Stocken. Vor allem, als Damians Gesicht zu mir schoss und er mich aus weit aufgerissenen, grau glühenden Augen ansah.

Ich hauchte seinen Namen, ging noch einen Schritt zu ihm.

„Nein!", brüllte er entsetzt. „Hau ab!"

Ich hörte nicht auf ihn. Im Gegenteil. Ich kam weiter auf ihn zu.

Damian kippte an den Baum und krümmte sich vor Schmerz zusammen.

Seine Schreie hallten in Echos durch den Wald und ließen es so klingen als stünden wir inmitten der gefolterten Seelen der Hölle.

Dabei war es nur Damian, der litt.

„Was ist los? Was tut dir weh?", fragte ich aufgeschmissen.

„Bitte." Er fiel auf die Knie, und versuchte, am Baum entlang von mir wegzukriechen. Dabei krallte er haltsuchend seine eine Hand in die Erde und die anderen in die Rinde des Baums. „Bitte geh."

„Ich lasse dich so sicherlich nicht allein." Ich überwand die letzten Meter zwischen uns. „Sag mir, was los ist."

Meine Bitte ging in seinem Schrei unter.

Ich wollte gerade neben ihm auf den Boden gehen, ihm hoch helfen, mir ansehen, ob er verletzt war. Da passierte es. Er begann sich zu verändern. Sich zu verwandeln.

Zuerst sah ich es an den Knochen seiner Finger. Seine Gelenke zersprangen, seine Hände schrumpelten zusammen und seine Nägel wurden zu Krallen. Seine Arme wurden dünner, die Knochen und Muskeln in seinem Rücken verschoben sich und sein Körper wurde länger. Ein Fell legte sich auf seine Haut.

Seine Schreie waren das schlimmste. Sie wurden immer verzweifelter. Immer dunkler.

Solange, bis er nicht mehr menschlich klang.

Bis nichts mehr an ihm menschlich war.

Solange, bis er als Tier vor mir lag.

Als Raubkatze.

Als Tiger.

„Damian." Ich fiel vor ihm auf den Boden.

Er streckte zuerst die Vorderbeine aus und dann die Hinterbeine. Seine ersten Bewegungen wirkten schwerfällig. Er machte ein paar Schritte, fast so als müsste er überprüfen, ob seine Beine funktionierten.

Tränen sammelten sich in meinen Augen. „Tut es noch weh?"

Er stieß ein Schnauben aus und bewegte den Kopf hin und her.

Das brachte mich zum Lachen. Dabei lösten sich die Tränen aus meinen Augen und rannten meine Wangen hinab.

„Komm. Ich tu dir nichts."

Es war total absurd, so etwas zu einer Raubkatze zu sagen. Einem riesigen, anmutigen Tier, das mich mit einem Schlag seiner Tatze töten konnte.

Aber es war nicht nur ein Tier. Es war Damian.

Wie bei dem Panther letzte Woche streckte ich meine Hand nach ihm aus. Mit einem Satz stand er mühelos vor mir. Seine Bewegungen waren so grazil, dass es mir umso gammliger vorkam, wie ich auf dem Boden saß.

Sobald er in Reichweite war, bewegte er sich langsamer. Vorsichtiger. Er ließ mich meine Finger in dem weichen Fell seiner Schultern vergraben.

Ich ging davon aus, er würde seinen Kopf auf meine Schulter legen, sowie beim letzten Mal. Stattdessen rieb er seine Wange an meiner. Erst die linke, dann die rechte. Dadurch verteilte er nicht nur meine Tränen in meinem gesamten Gesicht, sondern er kitzelte mich auch mit seinen Schnurrhaaren.

Ich lachte und wich seinem Versuch aus, wieder zu meiner linken Wange überzugehen. „Das kitzelt."

Wieder schnaubte er.

Wir schauten uns in die Augen, ich kraulte ihn unter seinem Kinn und ihm entkam ein tiefes Schnurren.

Ich lächelte. „Ich mag dich so viel lieber."

Ich war mir nicht sicher, ob er mich verstand und ob er aus meinen Worten Schlüsse ziehen konnte. Dass er sich hinlegte und seinen Kopf auf meinen Beinen ablegte, kam mir nicht wie etwas vor, das Damian als Mensch auch getan hätte.

So, jetzt, hier, war es okay für ihn, meine Streicheleinheiten zu genießen. Und es war okay für mich, sie ihm gerne zu geben. Alles andere war für diesen Moment bedeutungslos.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt