*(8) Schreie*

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Du schreist nicht, weil du Schmerzen hast, sondern weil du sie vertreiben willst.


~~~


Damian war verdammt schnell. Ich schaffte es nicht, ihn einzuholen, sah aber, in welche Richtung er lief, nachdem er das Schulhaus durch den Hinterausgang verlassen hatte. Den Wald.

„Damian, warte!"

Er drehte den Kopf über die Schulter und schaute zu mir. „Lass mich in Ruhe!"

„Können wir darüber reden, was gerade passiert ist?"

„Hau ab!"

Er rannte los und war schneller zwischen den Bäumen verschwunden als ich mich dazu kriegen konnte, meine Höchstgeschwindigkeit zu erreichen.

Wie gerne hätte ich in dem Moment mein Bike gehabt, um Damian damit in den Arsch zu fahren.

Warum rannte vor mir weg? Er konnte doch nicht ernsthaft glauben, ich würde ihn jetzt einfach gehen lassen.

Er hatte mich verteidigt und Finn und vielleicht auch sich selbst. Keine Ahnung. Was ich wusste, war, dass ich ihn gerade nicht in Ruhe lassen wollte. Das konnte nicht gesund sein. Scheiß egal, ob ihn dieser Zorn in ihm dazu bringen würde, mir ebenfalls in die Kehle zu gehen. Wegrennen und sich und seine Gefühle verstecken, brachte doch auch nichts, verdammt.

„Damian?"

Ich hörte erst auf zu rennen, als ich merkte, dass ich nicht mehr wusste, wohin. Schon ein paar hundert Meter von der Schule entfernt, war ich umgeben von Baumen und Büschen. Am anderen Ende des Waldes gab es Wege und Wiesen, aber hier schien alles wild um sich zu wuchern. Ein Stückchen Natürlichkeit in unserer so strukturierten Welt.

„Damian!" Wieder rief ich seinen Namen, diesmal minimal verzweifelt.

Ich wollte nicht behaupten, dass ich mich verlaufen hatte, aber ich wusste auch nicht, wo genau ich war.

Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und öffnete Google Maps. Die Verbindung war zu instabil, um direkt zu einem Ergebnis zu gelangen. Dumm wie ich war, dachte ich nicht daran, einen Moment stehen zu bleiben oder auch nur ansatzweise auf meine Umgebung zu achten, während ich weiter in den Wald hineinlief.

Ich nahm zuerst den Verlust meines Gleichwichts war, das Gefühl des feuchten Waldbodens unter mir, dann den Schmerz in meinem Knöchel und erst zuletzt die Tatsache, dass ich auf einen Stein getreten, auf seiner Oberfläche ausgerutscht und umgeknickt war.

„Perfekt", brummte ich und zog mein schmerzendes Fußgelenk an mich heran.

Es tat weh, damit aufzutreten, aber, wenn ich nicht in diesem Wald vergammeln wollte, hatte ich keine andere Wahl als mich damit abzufinden und trotzdem weiterzugehen.

Publikum zu haben hätte vielleicht geholfen, Stärke zu mimen und sofort weiterzugehen. Stattdessen schaffte ich es gerade mal, meinen Arsch auf einen Baumstamm zu hieven und beschloss, erstmal meine Lage zu evaluieren.

Mein Weg von der Schule hierher hatte mich kreuz und quer durch den Wald geführt. Geradlinig zurück zu laufen könnte mich also kaum zurückbringen. Mein Handy lud das Bild der Karte langsam, aber zumindest lud es. Um mich herum waren viele Büsche, der umgefallene Baumstamm, auf dem ich saß und ein paar Äste.

Es sah aus wie so ziemlich jede andere Stelle in einem unbestimmten Wald. Einzig die grau stechenden Augen in den Schatten der Büsche, hob sich von dem Bild ab.

Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte zu erkennen, welches Tier da vor mir stand. Erst, als es langsam voranschlich, glaubte ich einen Jaguar zu kennen. Goldgelbes Fell, schwarz-braunes Muster, graue, wache Augen und ein ruhiger, neugieriger Blick.

Der Anblick ließ mich den Schmerz in meinem Fuß beinahe vergessen.

Ich musste mir den Kopf gestoßen haben. Anders konnte ich mir, was ich da sah, nicht erklären.

Was ich sah und, was ich fühlte.

Rein rational wusste ich, dass ich schon mal als Raubkatzen-Kot sehen konnte, wenn das Tier näher auf mich zukam. Aber ich fühlte keine Angst. Ich war ruhig. Ruhiger als wenn mich ein Mensch so intensiv angesehen hätte, wie dieser Jaguar es tat.

Wie sollte ich auch Angst haben, wenn er, als er mich erreichte, knapp neben mir zu Boden ging und meinen verletzten Fuß anwinselte.

Ich drehte durch. Ich musste durchdrehen. Alles andere ergab keinen Sinn.

Eine spontane Psychose erschien mir plausibler als zu glauben, es sei Tatsache, dass ich im Wald saß und mit einem Jaguar chillte.

Und wie er mich ansah... So als wüsste er genau, wie aufgewühlt ich war. So als könnte er das Pochen in meinem Bein spüren. Oder das meines Herzens.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit so verging, bis Finns Stimme durch den Wald hallte: „Marlon!"

Sofort stand der Jaguar auf allen Vieren und schaute in die Richtung, in der Finn auf uns zuzukommen schien.

Er schaute mich ein weiteres Mal an, meinen Fuß und dann wieder meine Augen. Dann drehte er sich um und trabte weg.

Er verschwand in derselben Richtung, aus der er gekommen war und obwohl ich erwartete, dass er sich in einer magischen Luftwolke auflöste, sah ich ihn doch so lange, wie die Sträucher und Bäume meinen Blick auf ihn versperrten.

Lange bevor ich verarbeitet hatte, was überhaupt genau passiert war, begann ich Finns Rufe zu erwidern.

Er fand mich, schaute sich aber weiter um. „Hast du Damian nicht gekriegt?"

Ich schüttelte den Kopf. „Er ist schnell. Und ich bin umgeknickt." Ich deutete auf meinen schmerzenden Knöchel.

„Perfekt", meinte Finn ironisch.

Ich lachte leicht. „Hab ich auch gedacht."

Er schmunzelte über unsere gleiche Denkweise, doch die Besorgnis in seinem Blick war nicht zu übersehen. „Soll ich dich stützen oder tragen?"

„Kommt drauf an: Trägst du mich wie eine Prinzessin?"

Er musterte mich kritisch. „Kommt drauf an: Willst du auf deinen süßen Prinzessinnen-Knackarsch fallen?"

Wir entschieden uns dazu, dass er mir mich stützen würde und schafften es mit wenig Skill und viel Geduld zurück zur Schule.

„Soll ich deine Tante anrufen? Du musst bestimmt ins Krankenhaus mit deinem Schweinshaxen."

Ich schüttelte den Kopf, in der naiven Erwartung, die Schmerzen würden verschwinden, sobald ich verarbeitet hatte, was passiert war.

„Was ist los? Du bist voll durch den Wind."

„Ich hab einen Jaguar gesehen." Es auszusprechen ließ es noch surrealer rüberkommen. Vor allem mit Finns Reaktion.

„Echt jetzt? Wo?"

Er drehte sich zur Straße und erkannte somit nicht, dass ich mit dem Daumen über meine Schulter in den Wald zeigte.

„Ich hätte so gerne einen! Alle mögen Lambos, aber das liegt nur den diesen Auto-Roboter-Filmen. Transformers oder so. Total dämlich. Einfach vermenschlichte Autos. Wer kommt auf so eine Idee?"

Ich seufzte und hörte mir seinen Vortrag darüber, wie egozentrisch es von der Menschheit war, Tieren, Gegenständigen, Autos, ja sogar Essen in Filmen menschliche Eigenschaften zu geben, um sie relateable zu machen. Finn behauptete ernsthaft, mit genug Empathie könnte man sich auch in ein Würstchen hineinverstehen, ohne, dass man ihm Augen und Mund gab.

Ich ließ ihn reden und hoffte, es würde mich von den Szenen aus dem Wald ablenken.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt