*(36) Verwandlung*

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Ihm wehzutun ist schlimmer als jeder Schmerz, den du erleiden könntest.

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Im Wald hinter Damians Haus hatte er einen bestimmten Platz, an dem er seine Sporttasche mit frischer Kleidung, Wasserflaschen, einem Handtuch und Deo versteckt hatte. Durch einen Blick in den Busch stellte Damian fest, dass sie noch dort war, obwohl er sie seit Wochen nicht mehr genutzt hatte.

Unter anderen Umständen hätte die gerne noch weitere Wochen dort liegen können.

Nachdem ich Damian erzählt hatte, wie er sich zurzeit verhielt, hatte er bloß genickt und gemeint, er würde darüber nachdenken.

Die ersten Tage wollte er mich nicht an seinen Gedanken teilhaben lassen. Das war okay. Wichtig war nur, dass er schließlich auf mich zugekommen war, um mir mitzuteilen, was ihn beschäftigt hatte.

Abgesehen davon, dass Damian nicht scharf darauf war zu spüren, wie seine Knochen brachen und seine Muskeln rissen, fürchtete er sich vor den Auswirkungen einer bewussten Verwandlung. Bisher hatte dabei immer sein Körper übernommen. Jetzt, wo er die Verwandlung unterdrücken konnte, die tierischen Verhaltensweisen aber auf seine menschliche Form abfärbten, hatte er Angst davor was passierte, wenn er sich bewusst für eine Verwandlung entschied. Wenn er nicht dagegen ankämpfte. Wenn er es einfach zuließ. Und, wenn er sich danach nicht mehr zurückverwandeln konnte.

Das war eines dieser Dinge, das ich auf logischer Ebene voll und ganz nachvollziehen konnte, von denen ich aber niemals behaupten würde, dass ich es wirklich verstand. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er sich damit fühlte und wie es war, in seiner Lage zu sein. Meistens kam ich mit meiner Lage ja kaum klar.

Ich hatte ihm versichert, dass er sich nicht verwandeln musste. Ich würde ihn decken, wenn es mit ihm durchging oder die Leute ablenken, wenn sie misstrauisch wurden. Wir würden das schon irgendwie hinbekommen.

Damian hatte bloß genickt und sich an mich gekuschelt.

Noch am selben Nachmittag hatte er mich beim Küssen unbewusst in den Hals gebissen. Das hatte seine Entscheidung komplett über den Haufen geworfen.

Er gab nicht zu, dass es daran lag, dass er nicht nochmal riskieren wollte, mir wehzutun, aber wir wussten beide, dass das sein Hauptgrund war.

Ich wusste nicht, wie ich dazu stehen sollte. Ich wollte nicht, dass er Entscheidungen aufgrund dessen traf, was das Beste für mich war. Gleichzeitig würde ich an seiner Stelle das Gleiche tun.

Für den Fall, dass er es nicht schaffte, sich zurück zu verwandeln, hatten wir letzte Nacht, im Dunklen meines Zimmers einen Plan für die Zukunft geschmiedet.

Damian wollte einen Brief schreiben, in dem er erklärte, dass er weggerannt war und sich alleine durchschlagen wollte. Er wollte sich bei Nicks Familie bedanken, weil sie ihm eine Chance begeben hatten. Vor mehr Leuten wollte er sein Verschwinden nicht rechtfertigen.

Er meinte, er würde dann bei meiner Villa im Wald wohnen und ich müsste jeden Tag zu ihm kommen, ihn streicheln und ihm erzählen, wie nervig es war zur Schule gehen zu müssen und dass ich am liebsten nur mit ihm durch den Wald streunen würde.

Wenn ich meinen Abschluss hatte, würde ich eine Waldhütte irgendwo ganz abseits kaufen und dort mit Damian wohnen.

Er meinte, ich sollte Videos von ihm posten und auf Social Media mit meiner Schmusekatze berühmt werden. So hätte ich Geld, ohne Arbeiten gehen zu müssen und konnte den ganzen Tag mit ihm verbringen.

Ich hatte allem zugestimmt, weil ich so sehr daran glauben wollte, dass es dazu nie kommen würde.

Ich konnte mir ein Leben mit Damian vorstellen. Ein menschliches Leben. Eines, in dem er Leute beleidigen konnte und sarkastische Antworten geben und so tun als wäre er mies gelaunt, während er bloß nicht zeigen wollte, dass er eigentlich Spaß hatte.

Ich wollte mit ihm reden und, dass er mit mir redete. Ich wollte ihn umarmen und von ihm umarmt werden. Ich wollte ihn küssen und von ihm geküsst werden.

Das würde mir fehlen, wenn er wirklich ein Tier bleiben sollte. Zu glauben, dass es Damian genauso fehlen würde, tröstete mich ein wenig. Zu wissen, dass er sich, wenn er eine Wahl hatte, für mich entscheiden würde. Für ein stinknormales Leben mit mir. Für das, was wir als normal definieren wollten.

„Ich weiß nicht, wie ich das machen soll", seufzte Damian und sah hilflos an seinem menschlichen Körper herab.

„Soll ich dich traurig oder wütend machen?", schlug ich vor.

„Lieber nicht. Ich weiß eh nicht, ob es eine gute Idee ist, dass du hier bist. Wenn ich völlig den Verstand verliere und dich nicht erkenne..."

Er brachte den Satz nicht zuende, aber ich konnte mir vorstellen, worauf er hinauswollte.

„Bisher hast du mich immer erkannt. Du warst eine richtige Schmusekatze." Ich musste grinsen, halb wegen der Erinnerung daran, wie er sich auf mir kleingemacht und geschnurrt hatte und halb, weil ich es liebte, ihn aufzuregen.

„Pass auf, was du sagst. Ich könnte dich umbringen und es nach einem Wildangriff aussehen lassen."

„Viel Erfolg dabei."

Damian verdrehte bloß die Augen und lehnte sich an den Baum neben sich. „Ich wüsste einen Weg, wie ich die Verwandlung herbeiführen kann-"

„Vergiss es." Ich kam mir richtig albern dabei vor, warnend einen Finger zu heben. „Keine Selbstverletzung mehr."

„Aus deinem Mund klingt das so dramatisch."

Ich schnaubte. Es klang dramatisch, weil es sich dramatisch anfühlte.

„Versuch mal das Gegenteil von dem zu machen, was du tust, wenn du dich nicht verwandeln willst."

Damian zog seine Augenbrauen nach oben. „Wenn ich mich dazu kriegen könnte, nicht bei dir sein zu wollen, hätte ich es schon lange getan."

„Na schönen Dank auch", brummte ich.

Er stieß sich von dem Baum ab und lief zu mir. „So war es nicht gemeint."

Ich nickte. Damian hatte sich jetzt schon so oft dafür entschieden, mich immer mehr in sein Leben und in sein Herz zu lassen. In jeder Sekunde, die er mit mir verbrachte, tat er es wieder.

„Wenn du da bist, dann dreht sich alles um dich. Ich drehe mich um dich. Ich kann mich nicht genug mit mur selbst auseinandersetzen, um zu wissen, wie ich es die letzten Male überhaupt geschafft habe, mich nicht zu verwandeln oder wie ich mich in die Lage bringen kann, mich zu verwandeln. Dazu habe ich in deiner Nähe nicht genug Konzentration."

Sobald er mich erreicht hatte, legte er die Arme um mich und hielt mich fest. Das machte er immer, wenn er befürchtete, etwas Falsches zu sagen.

Er kommunizierte nicht wie andere. Niemand hatte es ihm beigebracht. Er glaubte, er wäre schlecht darin, seine Gefühle auszudrücken. Ich glaubte, ich musste nur lernen, seine Sprache zu verstehen. Und diese Umarmung sagte etwas ganz anderes als seine Worte. Sie sagte, dass er etwas andere brauchte als nötig war.

„Soll ich gehen?", fragte ich und kämmte mit meinen Fingern durch seine Haare.

Er schloss die Augen und atmete tief durch. „Ich weiß nicht. Ich wollte, dass du mitkommst, weil alles so klar ist, wenn du da bist. Aber ich glaube, ein Teil von mir will keine Klarheit bei meiner Verwandlung. Das macht alles nur... schmerzhafter."

„Soll ich an den Waldrand gehen? Dann kannst du zu mir kommen, wenn du dich verwandelt hast. Oder auch nicht. Wie du willst."

Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

Er nickte. „Geh zu der Lichtung, kurz vor dem Waldrand. Wenn ich mich erinnere, komme ich da hin."

„Okay", hauchte ich, löse meine Hand aus seinen Haaren und legte einen Finger unter sein Kinn, um sein Gesicht zu mir hochzudrücken.

Er machte die Augen auf, sah mir aus einer Mischung aus braun und blau entgegen.

„Kuss?", fragte ich.

Er streckte sich zu meinen Lippen.

Wir küssten uns. Leicht, sanft, sinnlich.

Es fühlte sich an wie eine kühle Brise Wind in der Hitze des Hochsommers. Genauso erfrischend. Genauso wertvoll. Genauso vergänglich.


wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt