*(16) Weitermachen*

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"Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter" - Winston Churchill

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Ich verlor meinen Sinn für Zeit und Örtlichkeit. Jede meiner Fasern war auf Damian gerichtet. Auf den Jungen, der sich in einen Tiger verwandelt hatte und nun als dieses riesen Tier vor mir lag und sich sein langes, weiches Fell streicheln ließ.

Ich war noch lange nicht dazu im Stande gewesen zu begreifen, was passiert war, und wie es sich anfühlte, ihn in meinem Schoß liegen zu haben, als er aufstand, ein paar Meter von mir wegtrabte und sich wieder auf den Boden legte.

Verwundert sah ich ihn an, beobachtete ihn dabei, wie sein Fell kürzer wurde, sein Körper kleiner, seine Arme länger und seine Gestalt menschlicher.

Auch diesmal schien er Schmerzen zu haben. Sein Knurren ging in ein gepresstes Keuchen über und endete erst, als er wieder in menschlicher Gestalt dalag.

Er kippte zur Seite und lag da wie ein Fötus im Bauch seiner Mutter. Ein paar tiefe Atemzüge später begann er, seine Gliedmaßen langsam zu bewegen.

Es dauerte einige Minuten, bis er sich aufsetzen konnte und nochmal ein paar, bis er es schaffte aufzustehen.

Ich saß in der Zeit da, versuchte jede seiner Regungen wahrzunehmen und ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben.

„Fuck", war das erste, was er sagte, als er auf mich herabsah und den Kopf schüttelte. „Du sturer Idiot."

Ich wollte antworten. Wirklich. Es war wichtig, mit ihm darüber zu reden, was gerade passiert war. Es war nur... er war splitterfasernackt und machte sich keine Mühe irgendetwas zu verstecken.

Ich sah alles von ihm. Und ich konnte nicht aufhören hinzusehen.

Es war wie bei einem Unfall. Ich fühlte mich wie ein Spanner, wusste, es gehörte sich nicht, doch war so fasziniert. Ich war eine Motte und er war mein Licht.

Also saß ich weiter stumm da, während er eine Tasche aus einem Busch holte, sie aufmachte und eine Flasche Wasser rausholte. Die eine Hälfte trank er in einem Zug leer und die andere kippte er sich über den Körper. Dann holte er ein Handtuch hervor, wischte sich ab, besprühte sich mit Deo und begann, sich anzuziehen.

Es wirkte so routiniert. So organisiert. Obwohl nichts von dem, was da gerade passiert war, geplant gewesen sein konnte.

„Wie oft..." Ich schluckte.

„Kommt drauf an, wie ich drauf bin. Manchmal mehrmals pro Tag. Manchmal ein paar Tage gar nicht."

Er stopfte seine alten Klamotten, das Handtuch und die Flasche zurück in die Tasche, schloss sie, hing sie sich um die Schulter und kam auf mich zu.

Auch menschlich sah sein Gang anmutig aus. Alles an ihm wirkte grazil und mächtig.

Kurz vor mir hielt er an und hob mir die Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mich von ihm auf die Beine ziehen.

„Stehst du unter Schock?"

„Ich?", fragte ich ungläubig. „Du hast dich gerade in ein Tier verwandelt. Ich kann mir gar nicht vorstellen..."

Wieder fand ich keine Worte, um meinen Satz zu beenden. Wieder verstand er mich.

„Als du dir die Bänder angerissen hast, hattest du da Schmerzen?"

Ich nickte. „Ich habe voll die krassen Tabletten bekommen. Die haben mich schlafen lassen wie ein Baby."

„Mh", machte er und musterte mich aus braunen Augen. „Jetzt stell dir vor, jedes Band und jeder Muskel in deinem Körper reißt, jedes Gelenk renkt sich aus und jeder Knochen bricht, um sich neu anzuordnen."

„Wie überlebt man sowas?", hauchte ich, noch immer verstört dem Klang seiner Schreie und dem Anblick seines zusammengekrümmten Körpers.

„Sowie alles andere auch. Durchstehen, bis es vorbei ist und weitermachen als wäre nichts gewesen."

„Falls du ernsthaft glaubst, ich werde so tun als wüsste ich von nichts, hast du dich geschnitten", machte ich ihm klar.

„Was willst du machen? Mich einsperren und zum Kuscheln zwingen?"

„Das klingt so als hättest du es nicht genossen, gestreichelt zu werden."

Obwohl ich wusste, dass ich damit mein Todesurteil unterschreiben konnte, mache ich einen Schritt zu ihm und kraulte ihn unter seinem Kinn.

Ich wollte ihn damit provozieren, ja wollte, dass er mich wegstieß und anschrie, wollte irgendeine Reaktion, die verhindert, dass er einfach verdrängte, was gerade geschehen war. Ich rechnete nicht damit, dass schon nach wenigen Sekunden so viel Anspannung von seinem Körper abfiel, dass er beinahe zusammenklappte.

Zwar kniff er seine Augen zusammen, aber ich sah deutlich, wie sich seine Pupille vergrößerte.

Sein Blick fiel auf mein Grinsen und er schnaubte: „Fick dich, Marlon."

Er drückte meine Hand weg – sehr viel sanfter als ich erwartet hatte und auch sein Blick war nicht halb so wütend wie gedacht. Er schien selbst überrascht davon zu sein, wie er auch in menschlicher Gestalt auf Streicheleinheiten reagierte.

Allerdings, und das hielt ich nicht für unwahrscheinlich, konnte es auch sein, dass er schlichtweg keine Energie mehr dazu hatte, wütend zu werden. Was er gerade durchgemacht hatte, musste anstrengend genug gewesen sein.

„Warum hast du keine Angst vor mir?"

Es klang nach einer Bitte: Hab Angst vor mir. Geh auf Distanz. Lass mich allein. Gib mir keine Chance, mir Hoffnungen zu machen.

„Du hast oft genug bewiesen, dass du mir nichts tun würdest", sagte ich. Selbst ohne nachzufragen, wusste ich, dass er auch der Panther und der Jaguar gewesen war. Ich wusste es, selbst, wenn ich es nicht verstand.

„Ich habe keine Angst vor dir. Nur davor, dass du meine Neugier nicht befriedigst."

Er schaute mich kritisch an. „Interessante Wortwahl."

Ich lächelte unschuldig und hoffte, dass meine Wangen nicht so rot waren wie ich glaubte.

Damians Blick fiel auf mein Lächeln. Er schüttelte den Kopf, schaute zurück in meine Augen und meinte, begleitet von einem unscheinbaren Grinsen: „Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Aber ich werde mein Bestes tun, dich zu befriedigen."

„Meine Neugier", korrigierte ich.

„Klar. Deine Neugier." Damian lief in die Richtung, aus der ich gekommen war. „Wir reden in meinem Zimmer. Es regnet demnächst."

Er wartete nicht auf mich, wusste, dass ich ihm sofort hinterherrannte.

Ich kam mir total lächerlich dabei vor, alle paar Meter nach vorne zu joggen, weil Damian ein schnelleres Gehtempo hatte als ich und nicht daran dachte, langsamer zu laufen.

„Also erklärst du es mir?", fragte ich hoffnungsvoll.

„Mhm", machte er, beinahe gelangweilt. „Wenn du dann nicht aufhörst, mir hinterherzurennen, weiß ich auch nicht."

„Hey!", schmollte ich. „Diesmal bin ich dir nicht hinterhergerannt."

Dass ich genau in diesem Moment immer wieder zu ihm aufschließen musste, ignorierten wir beide.

„Was hast du dann im Wald gemacht?"

„Ich- Ja, okay, ich wollte schauen, ob mir nochmal eine Schmusekatze begegnet, aber ich wusste nicht, dass du das warst."

„Schmusekatze?" Damian konnte nicht fassen, was er da hörte. „Ist dir klar, wie tödlich Raubkatzen sein können?"

„Nicht du. Du bist eine Schmusekatze."

Zu sehen, wie er sein Gesicht verzog, brachte mich zum Grinsen. „Du bist so zutraulich und süß und fluffig und-"

„Wenn du Antworten von mir willst, hörst du jetzt auf zu reden."

Ich wollte protestieren, verstummte aber bei Damians strengem Blick.

Erklärungen zu bekommen, egal, wie unbefriedigend die auch ausfallen konnten, war mir minimal wichtiger als Damian unter die Nase zu reiben, wie verkuschelt er war. Das konnte ich danach auch noch.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt