*(2) Schwachstelle*

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Sie sagen, sie wollen dich kennenlernen. Dabei ist das einzige, was sie kennen wollen, deine Schwachstelle.

~~~


„Marlon, lies du doch bitte deine Einleitung vor."

Ich starrte auf mein oberstes Blockblatt als könnte sich dadurch eine Einleitung von selbst manifestieren.

Ich hatte die letzten 10 Minuten nicht genutzt, um die Aufgabe zu bearbeiten: eine passende Einleitung für irgendeine Fragestellung über Faust I zu schreiben. Mein Lehrer wusste das ganz genau. Deshalb hatte er mich drangenommen.

Alisha schob mir ihr Heft zu, aber der auffordernde Blick unseres Lehrers machte es unmöglich, unauffällig ihre Einleitung vorzulesen.

Im Schnelldurchlauf ging mein Hirn alle möglichen Erklärungen durch, die ich dafür vorbringen könnte, nur dumm in die Luft geschaut zu haben, statt den Arbeitsauftrag zu erfüllen.

Ein Klopfen an die Tür befreite mich von den durchdringenden Blicken des Tyrannen. Ich atmete erleichtert auf und Alisha begann sofort, etwas auf mein Blatt zu kritzeln. In dem Wissen, dass sie schneller und schöner schreiben konnte als ich, ließ ich es sie machen.

Währenddessen öffnete der Lehrer die Tür und fragte genervt: „Was ist?"

Nach einem kurzen Gespräch mit der Person vor der Tür, ging er einen Schritt zurück und ließ sie in den Raum kommen. Ihn.

Die Aufmerksamkeit des gesamten Kurses lag auf ihm, als er den Raum betrat und die hintersten Reihen nach einem freien Platz abscannte.

Seine dunklen braunen Augen blieben für einen Moment an mir hängen, bevor er sich auf den letzten freien Stuhl zubewegte, in der Reihe vor mir, ganz außen an der Wand.

„Wenigstens entschuldigen könntest du dich, wenn du schon zu spät kommst", schnaubte Herr Gauck, der den Jungen in Lederjacke, schwarzer Jeans und verwuschelten Haaren missgünstig beäugte.

Er sagte nichts und lieferte sich stattdessen ein Blickduell mit unserem Lehrer. Während Herr Gauck sichtlich angespannter wurde, zeigte sich das Klischee eines Bad Boys weiterhin unbeeindruckt. Desinteressiert. Gelangweilt.

Jeder andere wäre unter diesen Blicken, unter dieser Aufmerksamkeit schon lange eingeknickt. Er schien nicht einmal wahrzunehmen, dass es niemanden in diesem Raum gab, der nicht versuchte, seine Gedanken zu lesen.

„Hey, Neuer! Wie heißt du?"

Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, hatte einen Arm auf der Tischplatte, den anderen auf der Lehne des Stuhles und schaute zurück in die hinterste Reihe.

„Damian."

Ein Kichern ging durch die Reihen. Keine Ahnung wieso.

„Na schön, Damian. Wie wäre es dann, wenn du dich für deine Verspätung entschuldigst, damit wir endlich mit dem Unterricht weitermachen können?"

Damian schaute zurück zu Herrn Gauck. „Tut mir leid, dass ich mir vor meinem ersten Schultag keinen Bauplan besorgt habe, um mich in diesem hässlichen Abklatsch eines Jugendknasts sofort zurechtzufinden und die ersten 15 Minuten ihrer so wertvollen Stunde nicht zu verpassen, aus der ich sowieso nichts mitgenommen hätte."

Mein Mund klappte auf. Alisha schaffte es nicht, ruhig zu sein. Sie versuchte es. Presste die Lippen zusammen, hielt die Luft an und prustete schließlich lautstark und begleitet von einem Haufen Spucke los.

Obwohl die Hälfte der Klasse so reagierte wie sie, während die andere Hälfte herumgrölte, veränderte sich an Damians Haltung nichts.

„Geht's noch? Wie kann man an seinem ersten Tag so unverschämt sein?", fragte Herr Gauck fassungslos.

„Indem man sarkastisch auf die rhetorischen Fragen seines überheblichen Lehrers antwortet. Funktioniert ganz leicht."

„Oh, wollen wir mal sehen, wie hier überheblich ist! Soll ich mit deinen Eltern über dein respektloses Verhalten sprechen, mh?"

„Unbedingt." Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Grinsen.

Ich war fasziniert davon, wie menschlich er plötzlich aussah, wenn er grinste. Es zeigte, wie viel Leben hinter seiner kalten, ja fast maschinellen Fassade steckte.

„Na schön. Dann besorge ich mir später ihre Kontaktdaten im Sekretariat."

„Viel Glück dabei."

Herr Gauck schnaubte. „Du bist einer von den ganz Coolen, was?"

„Finden Sie?" Damian legte sich in einer erfreuten Geste, die Hand aufs Herz. „Danke für das Kompliment. Aber ich dachte, sie wollten ihren Unterricht weitermachen? Lassen Sie sich von mir nicht stören."

Er legte unter dem Tisch seine ausgestreckten Beine aufeinander, pulte sein Handy aus der Hosentasche und startete FreeCell.

„Das darf doch jetzt nicht wahr sein!" Herr Gaucks rotes Gesicht erinnerte mich an einen wütenden Mister Krabs. „Raus aus meinem Unterricht!"

„Von Unterricht habe ich bisher noch nicht viel mitbekommen", meinte Damian, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. Er beendete das Spiel in wenigen Sekunden, stecke dann sein Handy weg und stand auf.

„Was für eine Lachnummer", zischten sich die Jungs in der Reihe hinter mir zu.

Ich verdrehte die Augen darüber und Alisha warf ihnen einen finsteren Blick zu.

„Geht das auch ein bisschen Schneller?!", schnaufte Herr Gauck.

Damian ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er hob seinen Rucksack auf, stellte seinen Stuhl ordentlich an den Tisch und ging die Reihe entlang, um sie über die Lücke in der Mitte zu verlassen.

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen verließ er den Raum.

„So eine Unverschämtheit." Herr Gauck starrte auf die geschlossene Tür, so als könnte er Damian dadurch eine Kugel in den Hinterkopf jagen.

Seine Stimmung verschlechterte sich die kurze Unterbrechung nicht wirklich. Er war genauso ein mieses Arschloch wie vorher auch. Nur, dass er jetzt immer wieder auf die Tür schaute und Kommentare und random Kommentare über die Respektlosigkeit der heutigen Jugend brachte.

Wie immer in seinem Unterricht hörte kaum jemand zu. Aus allen Richtungen hörte ich Damians Namen, Vermutungen darüber, was ihn aufgrund wieder Aktion für eine Strafe erwarten würde und woher er wohl kam. Und wie immer, wenn ein Lehrer redete und meine Klasse lästerte, schaltete mein Gehör ab und ich versank in meiner eigenen Welt.

Eine Welt, die sich nicht mehr um die vorigen Dinge zu drehen schien.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt