*(75) Gebrochen*

267 31 1
                                    

Scherben bleiben Scherben, auch wenn man sie zusammenklebt.

~~~

Jeder Knochen in meinem Körper war mehrfach gebrochen, jede Kapsel, jedes Gelenk und jeder Muskel gerissen. In der Zeit, in der ich regungslos dagelegen war, hatte mein Körper unter Spencers Behandlung und der Aufsicht meiner Tante, all das rückgängig gemacht und versucht, zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren.

Größtenteils hatte das funktioniert. Meine Schmerzen rührten vor allem daher, dass aus dem Heilungsprozess viele weitere Mikroverletzungen übrigblieben, die mein Körper noch vollständig heilen musste.

Spence überließ mir die Wahl, ob ich ein Schmerzmittel haben wollte, wies aber darauf hin, dass es nützlich sein konnte, mit dem Schmerz zu arbeiten statt gegen ihn. Schmerzen waren Warnzeichen. Hinweise auf Verletzungen, Entzündungen oder andere Probleme. Sie zu betäuben würde mich dafür blind machen und könnte weiteren Behandlungen im Weg stehen.

Ich war mir nicht sicher, ob das tatsächlich sein Grund war oder er mich vielleicht nur leiden sehen wollte.

Es musste schwer für ihn sein, den Freund des Mannes zu behandeln, für den er Gefühle hatte. 

Zu wissen, dass man nicht zusammenpasste und sich dagegen zu entschieden, es zu versuchen, war immerhin etwas Anderes als es auch zu fühlen. Spence konnte noch so logisch erklären, warum er nicht mit Damian zusammen sein wollte, es änderte nichts daran, dass seine Stimme anders klang, wenn er über ihn redete.

Er tat mir leid. Alles, was ich über ihn erfuhr, klang so als wäre er verdammt einsam.

Mich beschlich das Gefühl, dass er sich nur so auf seine Forschungen stürzte, weil er versuchte, dadurch die Lücke in seinem Herzen zu füllen, die seine Eltern und sein altes Leben hinterlassen hatten.

Damian hatte mir bereits vor einer ganzen Weile von Spence erzählt. Von dem Hausbrand, der seine Eltern und seinen Hund umgebracht hatte. Spence hatte Monate auf Intensivstationen in Krankenhäusern für Brandopfer verbracht und war danach in Damians Wohngruppe gesteckt worden. Niemand hatte ihm geholfen, den Kontakt zu seinen alten Freunden wiederherzustellen. Seine Familie hatte ihm an Geburtstagen Geld geschickt und sich sonst nicht weiter für ihn interessiert. Er hatte niemanden. Und niemand hatte versucht, das zu ändern.

„Spence?", fragte ich, nachdem er und meine Tante alle Tests beendet und mir mitgeteilt hatten, in welchem Zustand mein Körper war. 

Wir mussten weiter beobachten, wie ich heilte, ob ich Symptome einer Verwandlung zeigte und wie mein Körper darauf reagierte, aber bisher sah es so aus als hätte seine Behandlung funktioniert.

Spence schloss eine Schublade, in der er etwas aufgeräumt hatte, und schaute mich neugierig an. „Was denn?"

„Danke."

Er legte fragend den Kopf schief. „Wofür? Also, ich meine, ich kann mir vorstellen wofür. Aber das habe ich nicht für dich getan. Das Ganze hat mir wahrscheinlich mehr gebracht als dir."

Zu einem gewissen Grad stimmte das. Mein Fall hatte Spence Aufschlüsse für seine Forschungen gegeben. Aber das änderte nichts daran, dass er mir geholfen hatte. Er hatte mich nicht nur behandelt, sondern Damian alles erklärt und ihm ein Stückchen Kontrolle zurückgegeben. Er hatte meine Tante hier wohnen lassen, um mich im Auge zu behalten und Damian und Markus jeden Tag herkommen lassen, um bei mir zu sein. Das Alles hätte auch anders laufen können.

Was Spence getan hatte und, was er dafür auf sich genommen hatte, war nicht selbstverständlich. Dafür dankte ich ihm. Auch, wenn er es nicht hören wollte.

Obwohl keiner von uns etwas sagte, sahen wir einander an. 

Es war nicht so wie mit Damian. Ich hatte nicht das Gefühl, er wüsste, das ich dachte und fühlte. Eher im Gegenteil. Ich wusste, dass er es nicht tat. Und, dass es mir bei ihm genauso ging. Wir waren weit davon entfernt, einander zu kennen oder auch nur ansatzweise zu durchschauen. Trotzdem glaubte ich, wir verstanden uns.

Es waren Stimmen aus dem Obergeschoss, die unseren Blickkontakt schließlich unterbrachen. Spence schaute zur Tür und meinte: „Sie sind da."

Ich rutschte von der Bettkante. Als Teil der Untersuchungen war ich bereits durch das Zimmer gelaufen und im Vergleich zu den ersten Metern war der Schmerz nun tausend Mal erträglicher, aber er war nicht weg.

„Soll ich dir helfen?" Spence trat an meine Seite und hielt mir seine Hand hin.

Obwohl ich daran zweifelte, dass jemand, der kleiner und dünner war als ich, mich wirklich stützen konnte, wollte ich nicht ablehnen.

Er legte sich meinen Arm um seine Schultern und umschlang meinen Rücken.

Wir machten kleine, wackelige Schritte und kamen langsam voran. Es war kein Wunder, dass Damian die Treppen runter trampelte und in den Raum gestürmt kam, bevor wir überhaupt die Tür erreicht hatten.

Er riss die Augen auf, als er mich nicht im Bett sehen sah, scannte den Raum nach mir ab und hielt dabei den Atem an. Als er mich erfasste, atmete er in einem Stoß aus und ich hörte all seine Ängste und Schmerzen der letzten Wochen in diesen Ton.

„Hey", lächelte ich. Mein Herz raste vor Freude, ihn zu sehen. Ich bildete mir ein, meine Schmerzen würden verblassen.

„Hey." Seine Stimme brach. Er presste die Lippen zusammen und eine Träne löste sich aus seinen schwarzen Augen und rannte seine Wange hinab.

Sein Anblick, seine verwuschelte Haare, seine tiefen Augenringe, sein leidender Ausdruck zog die Schmerzen aus meinem Körper und drückte sie direkt in meine Seele.

Ich löste meinen Arm von Spencer und streckte die Hände nach Damian aus.

Er schüttelte den Kopf.

„Komm her", forderte ich nun auch verbal.

Sein Kopfschütteln wurde stärker. Tränen lösen sich aus seinen Augen.

Je näher ich ihm kam, desto gequälter sah er aus. Kurz bevor ich ihn erreichte, begann er rückwärts zu laufen.

„Damian..."

Er drehte sich um und rannte die Treppen nach oben.

„Damian!", rief ich und versuchte, ihm hinterher zu eilen. Dabei geriet ich ins Taumeln und schaffte es gerade noch so, mich an der Wand abzufangen.

Spencer trat wieder an meine Seite und half mir die Treppen hoch. Wir hörten Stimmen und ein lautes Knallen.

Spence führte mich durch den Flur, an der offenen Küche vorbei und in das große Wohnzimmer. Am Rande bemerkte ich, dass meine Tante mit einem Buch auf dem Sofa saß, dass Markus neben der Tür stand, dass im Raum Chaos herrschte. Von Damian war weit und breit nichts zu sehen.

„Wo ist er?", fragte ich niemand bestimmten und bahnte mir meinen Weg über den schmalen Weg an den herumliegenden Zetteln vorbei.

Markus deutete wortlos zur Tür. Ich schaute ihn nicht an, wusste einfach nicht, wie. Stattdessen fixierte ich die Tür.

„Willst du ihm wirklich hinterher?", fragte Spence mich kritisch.

Er blieb stehen, also ließ ich ihn los und schleppte mich selbst weiter. Es war anstrengend und es tat weh, aber nichts würde mich davon abhalten, Damian zu folgen. So wie ich es immer getan hatte und so wie es immer tun würde.

Es war eben diese Entschlossenheit, die mich blind machte für Damians Gründe, vor mir wegzulaufen. Alles, woran ich denken konnte, war sein Schmerz und meine Überzeugung, ich wäre dazu im Stande, ihn ihm zu nehmen.

Ich öffnete die Tür und trat auf die Veranda. Draußen war es dunkel und kalt. Die Lichter vom Inneren der Hütte, reichten nicht, um die Umgebung genug zu beleuchten, um wirklich etwas zu sehen.

„Damian", hauchte ich in die Nacht und lehnte mich an das Geländer der Veranda. „Komm zurück."

Er hörte mich. Er musste mich hören. Aber er antwortete nicht. Er kam nicht zurück.

Er verschwand in einer Dunkelheit, in der ich ihn nicht erreichen konnte. Und alles, was mir blieb, war zu warten und zu hoffen, dass er zurückkommen würde.


wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt