*(58) Bleiben*

609 46 2
                                    

Würdest du bei dir bleiben, wenn du eine Wahl hättest?

~~~

Damian und Seb standen ein paar Meter hinter der Ecke zum Eingang des Bahnhofs und erkannten gleichzeitig, dass ich kein Passant war, der desinteressiert an ihnen vorbeigehen würde.

Ihre Augen weiteten sich. Damians wurden grün.

„Worüber redet ihr?"

Ich blieb bewusst ein paar Meter vor ihnen stehen, unsicher darüber, wie viel Nähe ich gerade zu Damian wollte. 

Mein Freund ignorierte den Wink, stellte sich zu mir und schirmte mich mit seinem breiten Rücken von Seb ab.

„Lass uns nachhause gehen. Ich erkläre dir alles in Ruhe, okay?"

Ich umfasse seine Unterarme und löste seine Hände von meinen Schultern.

Etwas in mir wollte ihn damit konfrontieren, dass er nicht ernsthaft von mir erwarten konnte, mich wieder auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten zu lassen.

Der größere Teil von mir beschloss, dass es keine gute Idee war, das vor Seb anzusprechen. Zumindest vor ihm wollte ich mit Damian wie eine vereinte Front wirken, selbst, wenn es nicht halb so sehr der Wahrheit entsprach ich wie es mir wünschte.

Ich verschränkte also meine Finger mit seinen und drückte fest zu. „Du meintest, du brauchst 10 Minuten."

„Tut mir leid", sagte Damian sofort und erwiderte den Druck meiner Hand.

„Das war meine Schuld. Ich habe ihn aufgehalten."

Ich schaute zu Seb. „Offensichtlich."

„Lass uns gehen", bat Damian leise, ohne Seb Beachtung zu schenken. 

Im Vergleich dazu, wie er vor einer Minute noch mit Seb gesprochen hatte, wirkte er ungewöhnlich verunsichert.

Vermutlich sollte es mir genauso gehen. Keine Ahnung, warum ich so ruhig war. Ich wusste, wütend sein war eine Option. Enttäuschung, Vorwürfe, Ängste... Hätten Damian und ich in den letzten Tagen nicht bereits so viel gestritten, sähe es in mir gerade wahrscheinlich genau so aus.

Tatsächlich war ich seltsam erleichtert. Ich war nicht mehr länger in der Situation, um die Wahrheit flehen zu müssen. Nicht nur, weil Damian gerade selbst gesagt hatte, dass er mir alles erklären wollte, sondern auch, weil es nicht mehr nur von ihm abhing. Das wusste auch er.

Ich entschied mich dafür, mit ihm zu gehen und ihm die Chance zu geben, mir seine Version der Dinge zu erklären, weil ich mich für seine Sicht interessierte. Dafür, wie es ihm damit ging und warum es ihm so schwerfiel, mir davon zu erzählen.

Als Damian mich mit sich zog, winkte Seb mir zu. Ich sah ihm die Erleichterung darüber, dass er sich nicht in einem öffentlichen Beziehungsdrama wiederfand, deutlich an.

Erst hinter dem Bahnhofsgebäude verlangsamte Damian seine Schritte, sodass wir nebeneinander herliefen. Ich warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass Seb verschwunden war. Im selben Moment löste ich meine Hand aus Damians und sorgte für etwas Abstand.

Er sah mit gesenktem Kopf auf den Meter zwischen uns, sagte aber nichts.

Ich schrieb eine Nachricht in meine Gruppe mit Finn und Alisha, in der ich erklärte, dass ich nachhause gegangen war und sie noch viel Spaß haben sollten. Dabei nahm ich mir vor, nochmal richtig mit ihnen feiern zu gehen, sobald ich in der Lage war, den Kopf frei zu bekommen.

Ohne darüber zu reden, liefen wir zu mir nachhause. Der Weg kam mir viel länger vor als er eigentlich war. 

Ich hoffe, Damian würde die Zeit nutzen, sich zu überlegen, wie er mir das Alles erklären wollte, denn im Gegensatz zum letzten Mal, als ich ihn auf sein seltsames Verhalten angesprochen hatte, würde ich mich diesmal nicht mit einem „ich muss mich erst sortieren" zufriedengeben.

Selbst, wenn in ihm bloß Chaos herrschte, wollte ich es sehen. 

Damian und ich schlichen in das Haus, streiften möglichst leise unsere Schuhe ab und tapsten in mein Zimmer.

Sobald wir dort angekommen waren, schaltete ich das Licht an und Damian kniff die Augen zusammen.

„Also?", fragte ich, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. „Fang an zu erzählen."

Seine Iris war beinahe so schwarz wie seine Pupille. Er hatte lange nicht mehr so dunkle Augen gehabt wie in letzter Zeit. Selbst, als er in der Schule versucht hatte, einen auf freundlich zu machen, hatte ein Blick in seine Augen gereicht, um zu sehen, dass sein Lächeln aufgesetzt gewesen war.

Der Anblick erinnerte mich an die kalte, scheinbar unerreichbare Version von ihm, die ich in den ersten Wochen und Monaten unseres Kennenlernens als Schutzhülle eines einsamen, gequälten jungen Mannes entlarvt hatte, der bloß ein wenig Verständnis brauchte, um Nähe zuzulassen.

Daher wunderte es mich nicht, dass er sich keine Mühe machte, etwas zu sagen. Ich sah in seinem Blick genau, wie sehr er dagegen ankämpfte, sofort aus meinem Zimmer zu stürmen und unsere Beziehung als gescheitert zu erklären.

„Damian." Meine Stimme klang sanfter als zuvor. Ich ging auf ihn zu, hielt aber an, als er zurückwich wie ein scheuer Welpe.

„Sag mir, was los ist. Du schließt mich aus."

Er schüttelte den Kopf, erst langsam, dann immer schneller. „Ich will nicht nur ein Problem für dich sein."

Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er das nicht war, dass der das niemals sein würde, aber mir entkam kein Ton.

„Dieser ganze Scheiß... Dieser ganze übernatürliche kranke Scheiß wird immer komplizierter, je mehr ich versuche, es zu verstehen. Irgendwann wird ein Punkt kommen, an dem dir das zu viel wird... Aber ich kann mich nicht verlassen. Ich muss damit klarkommen. Alleine."

„Nein", widersprach ich. Plötzlich war mir egal, dass er zurückgewichen war. Ich überwand die wenigen Meter zwischen uns und zwang ihn durch meine Hände an seinen Wangen, mir in die Augen zu sehen.

„Ich wusste von Anfang an, dass ich keine Ahnung habe, worauf ich mich einlasse. Das hat mich nicht davon abgehalten, mehr Zeit mit dir zu verbringen oder mich in dich zu verlieben."

„Marlon", hauchte er, als wolle er widersprechen.

Ich ließ ihn nicht.

„Du hast Recht damit, dass ich jederzeit gehen könnte. Aber ich will nicht. Ich will bei dir sein. Ich will mit dir zusammen sein. Mir ist egal, wie übernatürlich, krank oder kompliziert es ist oder noch wird. Wenn ich für dich da bin und du für mich da bist, kriegen wir das schon irgendwie auf die Kette."

Ich sah dabei zu, wie sich die Farbe seiner Augen in Begleitung zu meinen Worten veränderte. Sie wurden dunkler, immer dunkler, bis grüne und blaue Fasern sich durch die Schwärze zogen und zu einem kräftigen Türkis vereinten.

Zum Ende meines Satzes lagen Damians Lippen auf meinen. Er umschlag mich mit seinen Armen und presste mich an sich. Meine Hände rutschten in seinen Nacken und ich schnappe nach Luft, bevor ich seine Küsse erwiderte.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt