*(80) Ignoranz*

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Das Leben ist mieser Wichser und die Zeit ist sein Komplize.

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Den Rest des Wochenendes über hatte ich es geschafft, meiner Tante aus dem Weg zu gehen, indem ich die meiste Zeit bei Finn verbracht hatte und zuhause immer so getan hatte, als wäre ich todmüde, um in mein Zimmer zu verschwinden.

Ich konnte nicht weiter heile Familie spielen und wusste, dass etwas Anderes für meine Tante nicht in Frage kam.

Vielleicht sollte ich Klartext mit ihr reden. Ihr deutlich machen, dass ich nicht so tun könnte als wäre nichts. Ich brauchte die Wahrheit. Bis dahin war ein normaler Umgang mit ihr für mich nicht möglich.

Das Problem war nur: Meine Beziehung zu Damian fiel auseinander. Meine Freundschaften hatten Erschütterungen erfahren, von denen ich nicht wusste, ob und wie schnell sie sich davon erholen konnten.

Wenn ich meine Tante konfrontierte und sie sich weiter sträubte... Wohin würde das führen? Was würde das bedeuten? An wen konnte ich mich in dem Fall noch wenden? Wäre ich ganz allein? Käme ich damit klar? Hätte ich die Kapazitäten, einen Kampf allen Fronten zu führen?

Mit Damians Unterstützung würden mir die Antworten auf diese Fragen sehr viel leichter fallen. Ich hätte jemanden, der mich festhalten konnte, wenn ich mit meiner Tante stritt. Jemanden, der mich daran erinnern konnte, dass mir diese Antworten zustanden, wenn mein Mitleid mit meiner Tante zu groß wurde. Jemanden, der sich anhören konnte, was sie zu sagen hatte und mir helfen konnte, es zu verstehen. Jemanden, von dem ich wusste, dass ich mit ihm alles schaffte. Selbst, mit der Realität konfrontiert zu sein.

Meine Freunde wären sicherlich eine Unterstützung, aber die Frage war, wie stabil diese zurzeit war. Außerdem wussten sie nach wie vor nichts über meine Familienprobleme oder Gestaltwandler und ich hatte mich dafür entschieden, es vorerst dabei zu belassen. All diese Erklärungen waren nichts, das ich gerade leisten konnte. Vor allem nicht, wenn dadurch immer klarer wurde, wie wenig ich eigentlich darüber wusste.

Ich hatte Glück gehabt, mit Damian jemanden gefunden zu haben, der diese Dunkelheit, die auf meiner Familiengeschichte lag, kannte und damit umgehen konnte. Meine Psychosen, die so eng damit zusammenhingen, wären für Finn und Alisha kaum verdaulich. Sie würden mich und vielleicht auch die Welt ganz anders sehen. 

Das Wochenende verging also mit vielen Gedanken und wenigen Taten. Finn holte mich morgens ab und brachte mich abends wieder nachhause. Der einzige Grund, warum ich nicht gleich bei ihm übernachtete, war, dass ich es nicht allzu offensichtlich machen wollte, dass ich meiner Tante aus dem Weg ging.Ich beabsichtigte mit meinem Verhalten nicht, sie zu verletzen. Ich musste einfach einen Weg finden, mit ihren Geheimnissen und meinem Misstrauen umzugehen.

Am Montagmorgen holte Finn mich zuhause ab und wir fuhren zu Alisha. Sie stand bereits an der Straße, sodass Finn nur seitlich halten musste, damit sie einsteigen konnte.

Ich hatte mich, als Finn mich geholt hatte, extra nach hinten gesetzt, um Alisha umarmen zu können, sobald sie platznahm. Sofern sie dazu bereit war.

Es erleichterte mich ungemein, dass sie sich sofort in meine Arme warf und wir minutenlang so dasaßen, ohne etwas zu sagen.

„Okay, willst du dich dann langsam anschnallen? Ich kann nicht ewig hier stehenbleiben", meinte Finn und zwinkerte mir durch den Rückspiegel zu.

Er hatte mir bereits gesagt, dass Alisha nicht sauer auf mich war, doch ich hatte mich selbst davon überzeugen müssen, um es glauben zu können.

Die Situation, in der wir sie unterbrochen hatten... Dass ich jemanden geschlagen hatte, für den sie offensichtlich irgendetwas übrighatte... Dass ich ohne glaubhafte Erklärung zwei Wochen verschwunden gewesen war... Das waren gute Gründe, schlecht auf mich zu sprechen zu sein.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt