*(9) Lästern*

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Sie lächeln dir ins Gesicht und lästern hinter deinem Rücken.

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Meine Aktion, hirnlos in den Wald zu rennen, hatte schwerwiegende Folgen nach sich gezogen.

1. Beim Umknicken hatten ich mir die Bänder meines Fußes angerissen. Dafür bekam ich Schmerzmittel, eine Schiene und Krücken.

2. Ich träume jede Nacht von den grauen Augen des Tieres, hörte sein Winseln, fühlte die seltsame Ambivalenz aus Panik und Geborgenheit.

Meine Tante ließ mich den Rest der Woche zuhause verbringen und bot mir selbst nach dem Wochenende an, dass sie mich noch für ein paar Tage krankmelden könne, falls meine Schmerzen zu groß waren oder die Medikamente mich zu sehr ausknockten.

Es klang verlockend. Andererseits kannte ich mich selbst gut genug, um zu wissen, dass ich mir nicht die Mühe machen würde, aufzuholen, was ich verpasste. Also lieber in den Unterricht setzen, mich beschallen lassen und hoffen, dass ich etwas daraus mitnehmen konnte.

Meine Tante nannte mich ihr tapferes Goldstück, als sie mich Montagmorgen ins Esszimmer humpeln sah. Solange ich verletzt war, würde sie mich zur Schule fahren und abholen – ein Luxus, den ich seit der Grundschule nicht mehr erlebt hatte.

Finn und Alisha hatten mich zwar jeden Tag besucht, fielen mir am Montag auf dem Parkplatz aber trotzdem um den Hals und erdrückten mich beinahe mit freundschaftlicher Liebe. Ich tat so als wäre ich genervt davon, genoss es aber, Freunde zu haben, sie sich nicht scheuten, mir zu zeigen, dass ich ihnen wichtig war.

„Du musst nur ein Wort sagen und ich trage dich den ganzen Tag", meinte Finn. „Ich tue alles, damit ich nicht nochmal einen Schultag ohne dich erleben muss."

„Finn war richtig erbärmlich ohne dich", teilte Alisha mir mit.

Immer wieder verlangsamten die beiden ihre Schritte, weil sie merkten, dass ich nicht hinterherkam. Die letzten Tage zuhause war ich bloß dumm herumgelegen und hatte daher kaum Übung im Umgang mit langen Strecken auf Krücken.

Durch mein Schneckentempo schafften wir es nicht vor Beginn der Stunde auf unseren Plätzen anzukommen.

Finn entschuldigte sich für unsere Verspätung und verwies auf meinen Fuß.

Herr Gauck wirkte so als wolle er uns anmotzen, bis er sah, wie erbärmlich ich auf den Krücken lief.

Sein Blick huschte von mir in die vorderste Reihe, in der Damian direkt neben der Tür saß. Er schluckte, was auch immer er hatte sagen wollen, runter und ließ uns kommentarlos zu unseren Plätzen gehen/humpeln.

Der Unterricht ging weiter. Finn nahm meinen verletzten Fuß auf den Schoß und streichelte darüber, während er Markierungen in seiner Ausgabe von Faust I machte, die für die Klausur hilfreich sein konnten.

Dadurch, dass ich so saß, dass Finn meinen Fuß überhaupt auf dem Schoß haben konnte, befand Damian sich in meinem Blickfeld. Er lehnte, wie so oft, mit dem Rücken an die Wand und war dadurch ebenfalls in meine Richtung gedreht.

Als sich unsere Blicke trafen, nickte er mir zu. Ich erwiderte es lächelnd.

Nach dem Ende der Stunde hob Finn meinen Fuß vorsichtig auf den Boden. Wir ließen uns dabei, unsere Sachen zusammen zu packen, Zeit.

Das Klassenzimmer war fast leer, als ich merkte, dass Damian im Durchgang zwischen den Tischreihen stand und von dort aus zu mir sah.

Er sah unschlüssig aus. Sein Blick sprang ein paar Mal zwischen der Tür und meinem Fuß hin und her, bevor er zu mir kam.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt