*(17) Unmenschlich*

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Sie sagen Fehler seien menschlich. Aber was, wenn du kein Mensch bist?

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„Es ist zum ersten Mal passiert, als ich 14 war."

Wir saßen in Damians Zimmer.

Er hatte innerhalb weniger Minuten geduscht, sich neue Sachen angezogen und saß nun mit noch feuchten Haaren neben mir auf seiner Bettkante.

Als er gesehen hatte, dass ich genau dort geblieben war, wo der mich zurückgelassen hatte... dass ich nicht abgehauen war und ihm die Möglichkeit gab, so zu tun als wüsste ich von Nichts... hatte er schwer geseufzt, die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen und sich zu mir gesetzt.

Es überraschte mich ein wenig, dass er einfach begann zu erzählen. Dass er nicht versuchte, auszuweichen oder nur meine Fragen zu beantworten und zu hoffen, dass mir das reichte. Er erzählte mir alles. Anfang bis Ende. Und ich hörte zu.

„Die Familie, in der ich damals war, war nicht perfekt, aber irgendwie... Irgendwie war es meine Familie. Bis ich sie zerstört habe."

Ich schüttelte meinen Kopf, aber hielt mich davon ab, ihm zu sagen, dass ich das nicht glaubte. Auch, mehr zu erfahren, änderte nicht viel an meiner Einstellung. Damians Worte waren die eines traurigen Kindes, das all das Unrecht, das ihm widerfahren war, dadurch rechtfertigte, dass er es verdient hätte. Um es irgendwie begreiflich zu machen. Erträglich.

„Ich hätte mich nicht einmischen sollen. Meine Pflegemutter hat uns jeden Abend gesagt, dass wir hochgehen und oben bleiben sollen. Egal, was wir unten hören. Wir haben es gemacht, ohne es in Frage zu stellen. Nur an diesem einen Abend hat mich interessiert, was unten vor sich geht."

Sein Lachen sah unfassbar traurig aus. „Ich bin gerade erst 15 geworden und dachte, ich bin alt genug, alle Erwachsenengeheimnisse zu erfahren. Ich wusste nicht, dass sie nie versucht hat, Geheimnisse zu bewahren, sondern uns zu schützen."

„Was ist passiert?", hauchte ich, obwohl ein großer Teil von mir schrie, dass ich es gar nicht wissen wollte.

„Mein Pflegevater war betrunken. So betrunken, dass er gar nicht mehr mitbekommen hat, wie aggressiv er war. Plötzlich haben die ganzen blauen Flecken meiner Pflegemutter Sinn ergeben. Dass ich sie in fünf Jahren bei ihr nie ungeschminkt gesehen habe. Ihre „Tollpatschigkeit"..." Als seine Finger zu zittern begannen, ballte er seine Hände zu Fäusten. „Dieses Arschloch hat sie geschlagen und sie hat sich damit abgefunden, weil heile Familie zu spielen, ihre einzige Chance war, uns zu behalten... Sie wollte so unbedingt Mutter sein."

Damians Stimme brach, doch ich sah ihm an, dass es mehr an seiner Wut lag als an Traurigkeit.

„Im einen Moment habe ich gesehen, dass er sie geschlagen hat. Dann ist er auf mich los. Sie hat ihn zurückgehalten und mich angeschrien, dass ich mich im Badezimmer einsperren soll, bis er sich beruhigt hat. Aber ich konnte mich nicht bewegen, bis er direkt vor mir stand und mein Körper automatisch ausgewichen ist. Er ist gestolpert und an den Türrahmen geknallt. Plötzlich war da Blut und meine Pflegemutter hat geweint und meine Geschwister standen auf der Treppen und haben mich angeschrien und..."

Er schluckte.

Ich konnte mich nicht mehr davon abhalten, seine Fäuste zu mir zu ziehen und sie mit meinen Händen zu umschließen, half ihm, seine Fäuste noch enger, noch fester zu machen.

„Das nächste, was ich weiß, ist, dass meine Geschwister und ich mit unseren Betreuern in einem Krisentreffen beim Jugendamt saßen und uns die Sachbearbeiter erklärt haben, was jetzt mit uns passiert. Mein Pflegevater war im Krankenhaus und meine Pflegemutter in der Psychiatrie. Sie wurde für untauglich erklärt, sich weiter um Kinder zu kümmern. Weil sie... Weil sie gesagt hat, dass ich mich verwandelt habe. Dass meine Geschwister das Gleiche gesagt haben, wurde darauf geschoben, dass sie nicht zurück ins Heim wollten."

„Shit", entkam mir.

„Ja", flüsterte er. „Shit. Vor allem, weil ich ab da immer wieder Blackouts hatte, nach denen ich nackt im Wald aufgewacht bin. Manchmal auch blutverschmiert und mit irgendeinem toten, zerfetzten Tier neben mir. Mal ein Hase, mal ein Reh... Irgendwann habe ich gecheckt, dass das immer passiert, wenn ich sehr wütend oder traurig war. Aber je mehr ich versucht habe, meine Gefühle zu unterdrückten, desto überwältigender wurden sie... Es hat einfach nicht aufgehört."

Damian zog seine Hände aus meinen drehte den linken Arm, um mir zu zeigen, wie er mit dem Zeigefinger eine lange Linie auf der Innenseite seines Unterarms zeichnete. „Ich dachte, ich kann es beenden. Ein Schnitt, nur tief genug. Aber alles, was passiert ist, war, dass ich mich verwandelt habe und geheilt bin. Also habe ich es wieder versucht. Und wieder. Und wieder."

Er legte eine Pause ein und musterte meine Reaktion.

Ich konnte ihn bloß stumm ansehen.

Mein Herz brach für sein vergangenes Ich, das nur diesen Ausweg gesehen hatte und immer wieder damit konfrontiert worden war, nicht in den Tod flüchten zu können.

„Ich bin mir erst sicher, in was ich mich überhaupt verwandle, weil Spence es mitbekommen hat."

Ich fühlte mich nicht wohl dabei, die Tatsache, dass er versucht hatte, sich umzubringen einfach zu ignorieren und in der Erzählung weiter zu gehen. Gleichzeitig musste ich akzeptieren, dass ich nichts Hilfsreichen dazu beitragen könnte.

„Jemand aus dem Heim?"

Damian nickte. „Für die meisten war ich bloß ein Beispiel für einen gescheiteren Ausstieg aus dem System. Der Typ, der seinen Pflegevater schwer verletzt, seine Pflegemutter in die Klapse gebracht und seine Geschwister zurück ins Heim geschickt hat. Von Hass zu sprechen wäre untertrieben."

„Du konntest nichts dafür", hauchte ich.

Damian zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm vollkommen egal. „Spence war anders. Nicht nur, weil er das erste halbe Jahr von oben bis unten mumifiziert rumgelaufen ist. Er hat einen Fick darauf gegeben, was alle gesagt und getuschelt haben." Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Jeder, der es gewagt hat, mir schlechte Laune zu machen, hat von Spence eine Portion Juckpulver ins Bett bekommen. Bevor er da war, dachte ich echt, ich werde nie wieder Lachen oder auch nur ansatzweise... okay sein."

Er machte eine Pause, in der sein Blick auf unsere verschränkten Hände fiel. Keine Ahnung, wie das passiert war. Er schaute dorthin, versuchte abzuwägen, ob er mit dem Bild, das sich ihm bot, einverstanden war.

„Also... wart ihr befreundet?"

„Offiziell ja."

„Und inoffiziell?"

„Wir haben nie darüber geredet, war genau wir waren. Aber ich glaube, Freunde schleichen sich nachts nicht ins Bett des anderen, um ihm heimlich einen runterzuholen oder in den Arsch zu ficken."

Damian schaute mich an. Seine Augenbrauen hochgezogen, fast so als wolle er mich dazu herausfordern zu widersprechen. Gleichzeitig wirkte er amüsiert von meinem panischen Schlucken.

„Wir haben keinen Kontakt mehr", erzählte er weiter. „Er war witzig und verführerisch und für ein paar Wochen genau das, was ich gebraucht hatte. Aber er war auch... seltsam. Unglaublich intelligent, aber extrem seltsam."

„Was meinst du?"

Damian schaute zurück auf unsere Hände. „Er fand es faszinierend, bei meinen Verwandlungen zuzusehen. Hat Notizen gemacht, Bilder gezeichnet, versucht zu verstehen, was dabei passiert. Das Ganze ging so weit, dass er mich absichtlich wütend gemacht hat, nur damit ich mich verwandle und er weiter forschen kann. Als wäre ich seine private Laborratte gewesen."

„Penner", zischte ich leise, obwohl mir deutlich schlimmere Beleidigungen einfielen.

„Er hat ein Stipendium für ein naturwissenschaftliches Internat bekommen. Als er gegangen ist, meinte er, er wird einen Weg finden, mich zu „heilen". Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört."

Ich verkniff mir den Kommentar, dass das wahrscheinlich gut so war. Spence klang in meinen Ohren wie ein Arschloch.

„Dann haben sich Nicks Eltern gemeldet. Und jetzt bin ich hier."

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt