Kapitel 10

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Nach der Schule fuhr ich auf direktem Weg mit dem Fahrrad nach Hause. Ich dachte noch lange darüber nach, was Jessica sich heute geleistet hatte. Merkwürdigerweise kam sie genau dann wieder zu mir, als sie herausbekommen hatte, dass ich Josh näher gekommen war. Dachte sie etwa, sie könnte so eine Masche abziehen? Obwohl ich zugeben musste, dass sie leicht verwirrt geguckt hatte, als Melina das Date erwähnte. Wusste sie es etwa noch gar nicht? Aber ganz ehrlich, würde das etwas an meiner Wut auf Jessica ändern? Ich war unschlüssig wie nie zuvor. Was sollte ich nun tun? Ihr einfach so verzeihen?

Meine Gedanken hörten nicht auf Fragen zu stellen, sodass ich sogar geradewegs an unserem Haus vorbeifuhr. Als ich schließlich an der alten Kreuzung, wo Jessica und ich uns früher, wenn wir zur Grundschule gegangen waren, getroffen hatten, ging mir ein Licht auf. Ich verdrehte meine Augen, schob das Fahrrad zurück, bis vor unser Haus. Dort stellte ich es in unserem kleinen Vorgarten, angelehnt an die große, grüne Weide ab. Unsere Ranch war das einzige Haus hier in der Nähe. Es lag ziemlich abgelegen vom restlichen Dorf. Vermutlich lag dies an den großen Wiesen hinterm Haus, welche alle zur Ranch gehörten.

Ich sah nach oben, in die riesige Baumkrone der wundervollen Weide. Zwei Vögelchen bauten sich gerade ein Nest weiter oben. Sie waren ziemlich klein, blau und süß. Wie sollte es anders sein, erinnerten sie mich an Schneewittchen.

Früher als ich klein war träumte ich oft davon, mit Vögeln singen zu können, genau wie sie. Ja, früher war Schneewittchen mein allerliebstes Buch. Ich las es jeden Abend vor dem Einschlafen, jeden Morgen nach dem aufwachen und immer dann, wann ich sonst noch Zeit hatte. Natürlich las ich es nicht immer komplett, aber zumindest bis zu der Stelle, wo sich die 7 Zwerge das erste mal vorstellten. Ich liebte die Zwerge, sie waren so etwas wie meine Weggefährten. Als Kind führten sie mich durch gefährliche Wälder, über Baumstämme, welche über ziemlich hohen Abgründen hingen und sie halfen mir, falls böse Jäger kamen und mein Herz haben wollten. Im Gegensatz zu heute, behielt ich meine großen Abenteuer früher nie für mich. Sobald ich aus meiner kleinen Welt durch den Spiegel zurückgekommen war, rannte ich sofort in die Küche, erzählte meiner Mutter davon.

Ich erzählte ihr, dass ich oft davon träumte, mit den Vögeln zu singen, weil es hier, in der echten Welt ja nicht ginge, da sie immer weg flogen. Sie antwortete mir jedes mal, mit dem gleichen Satz: "Ja weißt du, genau dafür sind Träume da. Du bist dazu in der Lage, sogar die unmöglichsten Dinge zu schaffen. Sei so nett und verliere niemals deine Fantasie, egal was die anderen sagen." Dieser Satz prägte mich, ich hielt mich daran.
Manchmal wünschte ich, ich hätte noch genau dasselbe Verhältnis zu meiner Mutter, wie früher. Ich vermisste sie oft, obwohl sie direkt ein Stockwerk unter mir in der Küche saß. Es fühlte sich an, als wäre sie Meilenweit von mir entfernt. Ich fühlte mich, als könnte ich ihr nichts mehr anvertrauen. Wenn ich ihr auf der Ranch begegnete, fühlte es sich manchmal an, als wäre sie eine Fremde. Sie und mein Vater beschäftigten sich einfach viel zu viel mit der Ranch, wie es in Zukunft mit ihr weitergehen sollte. Die beiden hatten weder Zeit für mich, noch für Kyle oder Hannah.

Mein Blick senkte sich wieder, ich nahm meine Tasche, ging ins Haus. Auf dem Weg zur Treppe, kam ich an der Küche vorbei. Meine Mutter telefonierte mal wieder, aber anscheinend bemerkte sie, wie ich an der Tür vorbeiging, denn sie öffnete sich. "Warte kurz, Betty. Hey Emma, Essen ist gleich fertig." Die dunkelblonde Frau ging zurück in die Küche.

Mit einem traurigen Stöhnen ging ich die Treppe hoch in mein Zimmer, legte meine Tasche weg, ging runter in die Küche. Kyle saß bereits auf einem Stuhl neben dem hölzernen Tisch, worauf zwei Töpfe, einer mit Nudeln und einer mit Soße, standen. Ich setzte mich vor Kopf, direkt neben Kyle. Hannah setzte sich auf der anderen Seite neben ihn und meine Mutter mir gegenüber, also auch vor Kopf. Dad war mal wieder zu beschäftigt, um hereinzukommen.

Wir fingen an zu Essen. Mom hatte endlich aufgehört zu Telefonieren und richtete das Wort an Kyle und mich. "Wie war es in der Schule?", fragte sie gespannt. Kyle versank ein wenig unterm Tisch. "Scheiße," antwortete er, sein Blick war grimmig. Mom wurde stutzig, harkte nach: "Kyle? Habt ihr die Mathearbeit wiederbekommen?", fragte sie, ihre durchbohrenden, grünen Augen auf ihn gerichtet. "Ja, aber die war sowieso dumm." Sagte er genervt. Mom verdrehte die Augen. "Muss ich alles aus dir herausquetschen? Was hast du für eine Note?" Sie sah ihn wütend an. Eigentlich konnte sie sich schon denken, was jetzt kam. "Ne 5." Kyle schmollte vor sich hin. "Das kann doch nicht dein Ernst sein Kyle. Schon wieder?" Sie stützte den Kopf auf ihre Hand, Kyle kurz vorm heulen. Ich sah zu Hannah, welche einfach nur unbeteiligt dasaß und ihre Nudeln aß. Mir reichte es. Ich musste etwas sagen.

Schützend, baute ich mit meinen Worten eine Mauer vor Kyle auf. "Wenn du dich mal mehr um deinen Sohn kümmern würdest, dann würde er vielleicht auch mal bessere Noten schreiben." Eigentlich wollte ich nicht schreien, doch ich tat es aus Versehen. Im Endeffekt tat es mir total leid. Ich wusste ja, wie stressig das Leben meiner Mutter war, jedoch war nun der Punkt erreicht, wo endgültig genug war. Familie geht vor! Das waren ihre Worte, als ich noch kleiner war. Sauer starrte ich ihr genau in die Augen. Stille brach aus. Sie hielt den Blickkontakt, aber ich könnte schwören, dass ich so etwas wie Leid in ihren Augen sah. Das Telefon klingelte, mein Blick sagte so viel wie: "Wehe du gehst da jetzt dran!" Doch sie tat es, räumte ihren Teller dabei weg. Komplett aufgebracht, stand ich auf, ging in mein Zimmer.

Die Schritte meiner Schwester folgten mir. Sie kam ohne zu fragen ins Zimmer, schloss die Tür. Hannah kam auf mein Bett zu, auf welches ich mich, vor lauter Verzweiflung, geschmissen hatte. Sie setzte sich neben mich. "Hey, du weißt doch, wie Mom ist. Sie ist nun einmal beschäftigt, aber sie will nur das beste für uns." Meine Schwester sah mich mit einem bemitleidenden Blick an. Ich lächelte ihr zu. "Ja, ich weiß aber... Im Moment ist sie so..." Ich richtete mich auf, saß nun neben Hannah, sah zu Boden. Sie hingegen, nahm mich in den Arm. "Was ist los? Schon wieder Stress mit Josh?"

Ihre Umarmung löste sich, sie sah mich erstaunt an. "Du hast mir noch gar nichts von dem Projekt erzählt," stellte sie fest. "Du warst ja auch nicht da," gab ich in einer verspielten Stimme zurück. Jetzt musste Hannah auch Lächeln. Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Bett, ich tat es ihr gleich, sodass wir direkt gegenüber saßen. "Also, es lief eigentlich ganz gut." Sagte ich, um die Spannung etwas beizubehalten. Hannahs ironischer Blick verriet alles. Ich musste lachen. "Jetzt sag schon," sagte sie in einem gespielt genervten Ton. "Naja, also eigentlich lief es mit dem Projekt ganz gut." Mein grinsen wurde breiter. Hannah rollte ihre Augen. "Was heißt gut?", fragte sie. "Wir sind fertig geworden." Ich wusste selbst, dass ich es langsam ein bisschen übertrieb. Hannah ermahnte mich: "Emma!" Diesmal sah sie mich wirklich genervt an. "Dann waren wir am Strand, er hat mich ins Wasser geschmissen, wir haben uns geküsst und jetzt gehe ich am Freitag mit ihm auf ein Date." Ich wendete meinen Blick von ihrem ab, sah grinsend zu Boden.

Hannahs Mund stand offen. Sie war sichtlich baff. Dann fiel mir etwas ein. Ich richtete mich wieder an Hannah. "Du, kann ich mir nochmal ein Kleid von dir ausleihen?", fragte ich mit der süßesten Stimme, die ich aufsetzen konnte. Hannahs Mund schloss sich abrupt. Sie sah mich ernst an und mein Grinsen verschwand langsam. "So kann das nicht weitergehen," sagte sie ernst, den Blick auf mich gerichtet. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Wollte sie etwa nicht das ich mit Josh ausging. Schnell wandte ich das Wort an sie: "Ich gehe nicht allein! Alicia und sein Bruder Jamie kommen auch mit!" Jetzt wirkte ihr Blick entgeistert. Sie sagte vorsichtig: "Also eigentlich meinte ich, dass wir jetzt sofort losfahren sollten, um dir ein eigenes Kleid zu kaufen."

Ich wurde rot. Natürlich meinte sie das Kleid. Wir brachen in Gelächter aus, ich schüttelte vergnügt den Kopf, wegen meiner Dummheit. Dann meldete sich Hannah erneut zu Wort: "Komm, wir fahren zu Pansy." Pansy war die Schneiderin bei uns im Dorf. Sie war 78 Jahre alt, hatte graue, kurze, gelockte Haare und einen sehr guten Geschmack was Kleider anging. Sie arbeitete alleine in ihrer kleinen Schneiderei, machte jedes einzelne Kleid von Hand. Sie war eine der nettesten Menschen im ganzen Dorf und jeder hier mochte sie und ihre Künste. Es war der perfekte Ort, um ein Kleid zu kaufen.

Wir standen gleichzeitig von meinem Bett auf, gingen herunter zu Hannahs alten Ford Pick-Up. Wir stiegen ein und fuhren los zu Pansys Schneiderei.

Her own happy endingWhere stories live. Discover now