Kapitel 35

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Alicia war noch die ganze Nacht bei uns, bis dann am nächsten Morgen ihre Eltern kamen und sie abholten. Sie durfte nicht zu spät zu ihrer Führerscheinprüfung kommen. Sie hatte sich nämlich einen kleinen Traum damit erfüllt, als sie angefangen hatte, einen Motorradführerschein zu machen. Da sie erst 16 war, war es natürlich vorerst nur ein kleines  Motorrad, aber sie freute sich dennoch riesig. 

Ich ging wieder hoch in mein Zimmer, als Mom mir direkt hinterher kam. Ich saß am Schreibtisch, sie stellte sich in den Türrahmen. "Und? Konntest du etwas mit dem Ding anfangen?" Ich drehte mich mit dem Stuhl zu ihr um. "Ja, komm her." Mit einem freundlichen Lächeln tat sie, wie ihr befohlen, weshalb ich ihr etwas Platz auf meinem Stuhl machte, damit sie sich ebenfalls setzen konnte. 

Sie brauchte nicht sonderlich viel Platz, da sie ziemlich dünn war, was mich oft auch sehr erschreckte. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass sie weniger wog als ich. Es erschreckte mich, sie so zu sehen, aber seitdem Kyles Bruder in dem See ertrunken war, hielt sie nicht viel vom essen. Sie aß nur was nötig war und ließ sich auch von niemandem davon abbringen.

Wir saßen nun also zusammen vor dem PC, sahen uns alte Fotos an. Auf der alten Kamera waren Fotos von mir auf dem Pferd am Strand, von Mom und mir bei den Pferden auf der Weide und... eigentlich waren da nur Fotos von Mom und mir, weil wir die einzigen waren, die diese Kamera benutzt hatten. 

Doch irgendwann kamen wir zu einer Stelle, die für Mom wohl eher unangenehm war. Wir hatten die Kamera nämlich auch im Urlaub bei den Niagarafällen dabei, was bedeutete, an dem Ort, an dem Shawn gestorben war. Das erste Foto war im Auto. Kyle hatte es gemacht. Es zeigte Shawn und mich auf der hintersten Rückbank des großen Bullys, den wir uns damals von einer guten Freundin namens Amelie geliehen hatten. 

Sie und Hannah waren schon seit Geburt an Freundinnen, doch es ist schon ziemlich lange her, als wir sie das letzte mal gesehen hatten. Ich fragte mich, ob wir sie wohl jemals wiedersehen würden, immerhin wohnte sie nicht sonderlich nah. Es war eine Fahrt von mindestens 6 Stunden, um zu ihr zu kommen. Ich fand das echt schade, denn ich mochte Amelie. Sie war in dem Alter von Hannah, doch sie hatte früher auch immer sehr viel  mit mir gespielt. 

Als das nächste Bild aufkam, wurde es still. Sogar noch stiller als vorher. Es war das Bild, welches wir ganz groß oben auf dem Dachboden stehen hatten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich jetzt reagieren sollte. Was Mom in diesem Moment wohl dachte? 

Leise und mit zittriger Stimme fragte sie: "Darf ich mal kurz?", deutete dabei auf die Maus. Ich nickte zustimmend und schob sie zu ihr herüber. Schnell nahm meine Mutter die Maus, klickte sich aus dem Ordner und zog ihn schnell in den Papierkorb. "Nein, Mom!", rief ich erschrocken und versuchte sie davon abzuhalten, den Papierkorb zu leeren, doch leider vergeblich.

"Warum hast du das getan?", fragte ich total aufgebracht, stand auf. Mit einem Mal waren alle schönen Erinnerungen von früher davon. Sie waren jetzt weg und das für immer. Kein zurück mehr und die Kamera, tja, die war jetzt auch nur noch eine Kamera. Sie war nun nichts besonderes mehr. Die Erinnerung, dass nur Mom und ich sie immer verwendet hatten, würde auch immer und immer mehr verblassen, bis sie ganz weg sein würde und wir, wenn wir die Kamera später nochmal sehen sollten, uns daran erinnern, dass es eine ganz gewöhnliche Kamera ist. 

"Da waren doch auch die Fotos von uns drin!" Eine Träne stieg mir ins Auge, doch Mom schaute nur kühl auf den Bildschirm. 

"Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Hättest du damals kein Eis gewollt, dann hätten wir Hannah nicht mit den beiden kleinen alleine lassen müssen und Shawn würde noch leben!" Sie sah mich an und sie meinte es tot ernst. 

Jetzt konnte ich nicht mehr, brach unausweichlich in Tränen aus. Ich ließ mich langsam an der Wand hinunter sinken und legte meinen Kopf in meine Hände. Warum gab sie immer mir die Schuld? Was sollte das nur? Mittlerweile fing ich an, wirklich daran zu glauben, dass es meine Schuld war. Es war die reinste Hölle für mich. 

Ich hörte, wie Mom sich vom Stuhl erhob und hatte Hoffnungen, sie würde zu mir kommen und mit mir reden. Mir sagen, dass es nicht meine Schuld war oder zumindest, dass sie mir verzeiht. Doch als ich meine Zimmertür, die behutsam zu gemacht wurde, hörte, wurde mir klar, dass sie einfach so aus dem Zimmer gegangen war. Meine eigene Mutter, so kalt wie ein Eisblock, hatte mich heulend in meinem Zimmer sitzen lassen. Ohne ein Wort zu sagen, ohne auch nur zu versuchen, mich zu trösten. Sie dachte tatsächlich, das alles hier sei meine Schuld und ich glaubte das jetzt auch.

"Warum wolltest du nur ein beschissenes Eis haben?! Warum konntest du nicht einfach mal verzichten?!" Ich schreite mich selbst an, konnte nicht mehr. 

Ich lief heulend durch mein Zimmer und riss all meine Bücher aus den Regalen. "Wie konntet ihr nur?! Ihr habt mir immer erzählt, dass das Leben ein Märchen ist und dass alle irgendwann ihr Happy End finden würden, aber das stimmt nicht! Hier stehen nichts als Lügen geschrieben!" 

Immer mehr Bücher kamen aus den Regalen. Ich dachte nicht einmal daran aufzuhören. Die Bücher sollten verschwinden. Ich wollte sie nicht mehr sehen. Während der ganzen Zeit liefen mir Tränen aus den Augen. Hin und wieder schrie ich sogar. Entweder hörte meine Mutter das nicht, oder sie wollte es nicht hören. Ich entschied mich, an das zweite zu glauben, was höchstwahrscheinlich sowieso der Fall war.

Als ich bei meinem kaputten Cinderella Buch ankam, wurde ich ruhiger. Ich schlug die letzte Seite auf. Auch dort war alles vom Regen durchnässt uns somit unleserlich, doch der letzte Satz stand geschrieben, als wäre niemals etwas mit dem Buch passiert. Ich las ihn laut vor.

 "Und so bekam auch das arme Mädchen ihr eigenes Happy End." 

Alles war still. Ich hörte nichts außer mein wild pochendes Herz und meinen schweren Atem. Plötzlich ergriff mich erneut die Wut und ich riss die letzte Seite raus, um sie dann kurzerhand aus dem Fenster zu schmeißen. 

Der Wind trug sie weit weg. Wohin, das wusste einzig und allein der Wind selbst und die Person, die diese Seite eines Tages finden würde, wenn es denn so kommen sollte. Vielleicht würde sie ihren Weg auch zu einem Baum finden, in dem sie sich dann verharken und nie mehr herauskommen würde. Was auch immer mit dieser Buchseite passieren würde, es war mir jetzt egal. Ich hatte keine Lust mehr den alten Märchen meine Aufmerksamkeit zu schenken. 

Ich schnappte mir so viele Bücher, wie ich tragen konnte, brachte sie hoch auf den Dachboden. Das ganze machte ich, bis wirklich alle, und es waren viele, auf dem Dachboden in ein paar Pappkartons angekommen waren. Ich schloss sie, starrte die Kartons noch eine Weile an. Das ich so etwas jemals tun würde, hätte ich vor ein paar Tagen für verrückt gehalten. 

Die einzige Quelle, die mir damals in schlechten Zeiten ein wenig Licht geschenkt hatte, war nun in den weiten unseres Dachbodens verschlossen.

Und das, vermutlich für immer. 

Her own happy endingWhere stories live. Discover now