XLIV

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Regungslos saß ich neben Liam im Auto und versuchte den Sturm in mir zu bändigen. Ich war so verwirrt! Einerseits fühlte ich mich so dreckig weil er mich auf diese Art berührt hatte, andererseits muss ich zugeben, dass mir das, was er da mit meinem Körper gemacht hat, sehr gefallen hat. Und das machte es irgendwie noch schlimmer. Wie konnte er es eigentlich immer wieder schaffen, mich aus der Fassung zu bringen? Niemand sonst konnte mich durch ein Schnipsen in so ein Chaos stürzen, wie er es tat. Ich fragte mich, ob Liam nicht gelogen hatte, als er sagte, dass er nicht sauer auf mich war. Er war angespannt, das war offensichtlich. Seine Fingerknöchel traten hervor, während er das Lenkrad umklammerte und stur gerade aus sah. Am liebsten würde ich etwas sagen, doch ich wusste nicht was. Wie sollte ich ihm erklären, was da eben passiert war, wenn ich es selbst nicht einmal wusste? Wie sollte ich ihm dieses Gefühl des Selbstekels beschreiben, was mich überkam? Wie sollte ich ihm erklären, dass ich mir gewünscht habe, dass er weiter machte nur weil ich es genossen hatte?

Die Bäume hinter uns verschwanden in der Ferne, genau wie das Gefühl der Wärme zwischen uns. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass Liam wegen mir gestoppt hätte und dass es ihm wichtig war, dass es mir gut geht. Bei all seinen schlechten Seiten war es schön auch mal eine Gute an ihm zu entdecken. „Ich habe nur eine Frage.", durchbrach er meine Gedanken. „Ist es dieser Jake wert?"

Ich stutzte, fragte mich wie er denn jetzt darauf kam, aber vermutlich hatte er seine eigenen Schlüsse gezogen und dachte, dass ich wegen Jake geweint hatte. Komischerweise hatte ich seit dem wir nach der Schule losgefahren sind nicht einmal mehr an ihm gedacht und Gewissenbisse traten auf, doch bei weitem nicht so schlimm wie sie hätten sein müssen. Das 'Aber' eben. „Es liegt nicht an ihm."

Liam schnaubte. „Was weißt du überhaupt über ihn?"

„Das ist eine zweite Frage.", antwortete ich ausweichend und mein Kopf begann zu rasen. Warum musste ausgerechnet Liam derjenige sein, der mich darauf hinwies? Denn er hatte Recht, ich wusste beinahe nichts über Jake. Ernsthaft, ich wusste weder seinen Nachnamen, noch sein genaues Alter, wusste nicht wo er herkam. Nichts. Erst jetzt fiel mir auf, dass er bei unserem Date auch nie etwas über sich erzählt hatte, sondern Fragen nach seiner Kindheit immer umschifft hatte wie ein Kapitän einen Sturm. Ich hatte nach seiner Familie gefragt und er meinte, dass der Club seine Familie sei. Oder als ich nach seinen Freunden fragt. Er hatte sich wegen ihnen ein Tattoo stechen lassen, sagte aber, dass er außer Drake kaum welche hatte. Wieso war mir das vorher nicht aufgefallen? Wie konnte mir nie auffallen, dass ich im Prinzip nichts wusste? Was machte er sonst? Arbeitete er bei den Bikern oder nicht? Was war seine Lieblingssportart? Mochte er Tiere? Der Schock zu dieser Erkenntnis verfestigte sich in mir und auch Liam schien das zu bemerkt zu haben. Er sah mich kurz von der Seite an, sagte aber nichts, ehe er zurück auf die Straße blickte. „Nichts." Ich hatte das Gefühl, ehrlich zu ihm sein zu können auch wenn ich es eigentlich besser wissen sollte. Liam Jefferson war keine Person, der ich vertrauen sollte und trotzdem tat ich genau das. „Es lag nicht an Jake eben. Ich.." Ich verstummte wieder, denn ich wusste nicht, wie ich weiter reden sollte.

Liam sagte nichts, hielt mir aber seine Hand hin. Er ließ mir die Wahl, ob ich sie nehmen sollte oder nicht, genau wie er mir in der Hütte die Wahl gelassen hatte. Und genau wie in da wollte ich es auch. Meine Hand legte sich in seine und er umschloss sie. Wieso fühlte ich mich deswegen erleichtert und warum wollte ich mit ihm über meine Gefühle reden, wenn er doch daran schuld war? Himmel Herr Gott, ich verstand warum alle meinten, dass Frauen so kompliziert seien.

*

Während der gesamten Fahrt ließ er meine Hand nicht los, eben so wenig wie ich die seine. Mein Körper beruhigte sich langsam, die Gefühle ebbten ab, bis schließlich nur noch meine Gedanken darum kreisten, warum ich so wenig über Jake wusste, wieso ich zu Liam ein Vertrauen aufgebaut hatte und wann mein Leben beschlossen hatte mehr Action zu vertragen. Die Häuser wurden zunehmend kleiner und wir bogen in meine Straße ab. Hier gab es keine schicken Gärten und gepflegte Rasen wie in Liams Gegend; hier war der Rasen vertrocknet und die Blumen hatten schon lange ihre Blüten verloren. Alles in einem sah es für außenstehende vielleicht trostlos aus, für mich aber bedeutete diese Gegend mein Zuhause. Ich kannte meine Nachbarn, ich ging zu deren Geburtstagen und wenn einer starb, brachten wir den Hinterbliebenen etwas zu Essen. Liam wurde circa eine Meile vor meinem Zuhause langsamer und kam anschließend zum stehen. „Willst du den Rest fahren?", fragte er.

Dieses Mal zögerte ich nicht lange, sondern ließ seine Hand los und schnallte mich ab. Nicht einmal zwei Sekunden später stand ich draußen, wartend dass Liam endlich ausstieg. Er lachte als er sah, wie ich aufgeregt wippte. „Ja ja, lach du nur.", sagte ich zu ihm, aber es klang bei weitem nicht so bissig wie sonst.

Unschuldig hob er die Hände. „Niemals würde ich das tun Ava. Aber tu uns den gefallen und fahr dieses Mal schneller als eine Schildkröte." Ich schnaubte; wir wussten beide warum er das eigentlich tat. Der Vorteil an meinem Gehirn war, dass ich Dinge nicht so schnell vergaß, wodurch ich Problemlos alles einstellen konnte und dann anfuhr. Das Auto bewegte sich zögerlich und mit den Metern wuchs auch mein Vertrauen in meine Fertigkeiten. „Die Polizei fährt hier aber nicht oft her oder?", versicherte sich Liam und sah sich unbehaglich um.

Ich lachte auf. „Du wärst überrascht. Aber ich werde möglichst auffällig fahren, damit sie uns anhalten, keine Sorge." Liam murmelte etwas wie ‚Das täte ich so wie so', allerdings war ich mir auch nicht sicher ob ich ihn richtig verstanden hatte.

Mein Fahrstil war einfach tadellos. Wie nicht anders zu erwarten, beherrschte ich die Straße. Liam's diverse Zuckungen und Mahnungen konnten mir nichts anhaben. Dass er den Boden küsste, als wir vor meinem Haus standen, war nach so einer grandiosen Fahrt nachvollziehbar, denn es war wie gesagt ein Traum einer Autofahrt gewesen. „Versprich mir, dass du niemals einen Führerschein machen wirst. Tu dir und deiner Umwelt einen Gefallen und tu. Das. Niemals."

„Tz.", machte ich und sah wie sich die Gardine in unserem Haus bewegte. „Wir stehen unter Beobachtung."

Er folgte meinem Blick. „Offensichtlich. Wie verhalten wir uns Commander?"

Noch bevor ich antworten konnte, ertönte auch schon ein lautes „Er soll hierbleiben" aus unserem Haus. Kurz darauf öffnete sich die Haustür und Amber rannte auf uns zu. Mehr auf Liam als auf mich, aber was hatte ich auch erwartet? Niemand in dieser Familie kannte das Wort Loyalität, jeder war sich selbst der nächste. Liam breitete die Arme aus und wirbelte sie durch die Luft, während sie fröhlich jauchzte. Unwillkürlich musste ich bei diesen Anblick lächeln, trotzdem fand ich Ambers Vorschlag nicht unbedingt gut.

„Ich glaube, dass Liam wieder nach Hause muss Amber." Ambers Gesicht begann sich zu verziehen. Wütend sah sie mich an und ich fragte mich, warum ich denn wieder die Böse war.

„Ach das kann warten, ich werde erst später zu Hause erwartet. Danke für die Einladung." Ich verdrehte die Augen und machte mich auf den Weg in das Haus.

„Spielst du mit mir Barbie?" Amber nutzte wieder ihre süße ‚Mir-kann-man-nichts-abschlagen' Stimme, die bei jedem außer mir zog.

Tja, damit schien er nicht gerechnet zu haben. „Ähm.. ja.. also Ava und ich...", druckste er rum.

Schadenfroh drehte ich mich zu ihm. „Ja, du und ich?"

„Ja... also, wir wollten ja noch eigentlich lernen."

„Ach das kann warten.", wiederholte ich seine Worte lieblich Lächelnd. Das hatte er davon meinen Bruder für seine Zwecke auszunutzen. Freudestrahlend kicherte Amber und versuchte wieder auf den Boden zu kommen, während Liam mich vernichtend anschaute. Ich zuckte mit den Schultern und zwinkerte ihm zu. „Versuch nicht ein Spiel zu spielen, dessen Regeln du nicht kennst.", sagte ich leise zu ihm als Amber an mir vorbei ins Haus rannte.

Auch Liam ging weiter und drückte mir im Gehen einen Kuss auf die Wange. „Ich werde dich daran erinnern." Dann wandte er sich dem Haus zu und rief lauter, dass er Thea sein will. Kopfschüttelnd folgte ich ihm. 

DeliriumWhere stories live. Discover now