XLIX

399 31 17
                                    

Wir redeten fast die ganze Nacht durch, bis die ersten Sonnenstrahlen über die Kronen der Bäume brachen. Er erzählte viel von seiner Kindheit hier und von seinen Freunden, während ich über meine Familie und dem Sage sprach. Es fühlte sich gut an mit ihm über solche Themen zu reden, auch wenn mich vieles davon überraschte. Ich hatte seine Freundschaft zu den Jungs nie als so tief erlebt, sondern dachte immer, sie wären eine Zweckgemeinschaft. Sie kamen alle aus der selben Schicht wie ich erfuhr und hatten früh angefangen für einander einzustehen, wenn man selbst es nicht konnte. Was mich weniger wunderte war die Entwicklung zwischen seinen Eltern. Am Anfang noch sehr harmonisch, distanzierten sich die drei zunehmend von einander und mit Liam's Misserfolgen in der Schule wurde diese Mauer immer größer. Er sprach so abgeklärt darüber, dass es mir leid tat, doch ihn schien es nicht zu stören. Vermutlich weil er es anders nicht kannte.

Ich erzählte ihm im Gegenzug von meiner Aufnahme an der Princeton und wie stolz alle auf mich waren, außer Dad, der die Befürchtung hatte, ich könnte mich übernehmen. Dann redete ich von Ambers großen Traum ins Disneyland zu fahren, was insgeheim auch mein Traum gewesen war, aber wir es noch nicht geschafft hatten oder wie Davie als Kind von Baum gefallen war, weil er meinte er sei eine Schnecke. Ich berichtete von Jules und Tia, meine besten Freundinnen, von Mike wie er immer hinter dieser Bar stand um uns im Auge zu behalten und wie sie sich ständig in die Angelegenheiten der anderen einmischen wollten oder versuchten zu helfen. Und von Jake, wie er sagte, dass wir nur Freunde sein sollten.

Die Zeit war so schnell vergangen, dass ich beinahe wehmütig wurde, wenn ich daran dachte wieder nach Hause zu fahren und in mein normales Leben einzutauchen. Zwar hatte ich Dad eine SMS geschickt, dass ich die Nacht unterwegs wäre, aber sobald ich meinen Fuß über die Schwelle des Hauses gesetzt haben würde, würde er mich vermutlich nie wieder raus lassen. „Unser Deal ist vorbei.", sagte Liam, während die Strahlen langsam über den See streiften.

Ich benötigte einen Moment um zu verstehen was er meinte, dann setzte ich mich auf. „Wieso? Hab ich irgendetwas Falsches gemacht?"

Er richtete sich ebenfalls auf und schlang seine Arme um die aufgestellten Beine. „Nichts. Ich habe nur verstanden, dass ich dich unglücklich gemacht habe und das will ich nicht." Er seufzte. „Ich will, dass du das Glück bekommst, was du verdienst und wenn es bedeutet, dass ich dich gehen lassen muss, dann werde ich das tun. Ich werde dich nicht mehr ansprechen und du musst mir auch keine Nachhilfe mehr geben. Es wird so sein wie früher, nur dass ich nie wieder etwas abfälliges zu dir sagen werde. Geh zu Jake und kläre das mit ihm. Er wäre ein Idiot dich gehen zu lassen."

Liam stand auf und sprachlos folgte ich ihm. Er ließ mich frei. Er hatte es wirklich gesagt. Die Worte, die ich seit dem Beginn des ganzen hören wollte, doch statt Freude, fühlte ich Enttäuschung. Es war vorbei. Einfach so. Es würde keine Zettel mehr geben, die mich von dem Unterricht ablenkten, keine heißen Küsse im Gang, keine Nachhilfestunden in der Bibliothek, wo ich das Aufleuchten in seinen Augen sehen konnte, wenn er etwas verstand. Ich hatte so darauf gehofft, dass mir nicht aufgefallen war, wie ich die Zeit geschätzt hatte. Nicht alles, auf keinen Fall, aber es würde so viele Kleinigkeiten geben, die ich vermissen würde. „Ich werde nicht zu Jake gehen."

Liam stand bereits an der Tür, als er sich überrascht zu mir drehte. „Warum nicht? Er scheint wirklich ein netter Kerl zu sein."

„Ich werde trotzdem nicht zu ihm gehen."

„Sei nicht dumm Ava, du bist in ihn verliebt!"

Ich glaube, ich war selten schlauer gewesen als in diesem Moment. Jake und ich würden kein Paar werden. Er war nicht die Person, die mein Herz höher schlugen ließ oder wo mein Körper das Denken ausschaltete. Er war nicht die Person, die sich unerlaubt in meine Gedanken einschlich. Wir würden keine romantische Beziehung führen und irgendwann morgens nebeneinander aufwachen und glücklich sein, weil wir uns gefunden hatten. Es würde keine wilden Fahrten auf seinem Motorrad geben. Weil Liam sich irrte. Ich war nicht in Jake verliebt. Nicht mal ein wenig, nicht einmal ein bisschen und ich hatte so lange gebraucht, um das zu verstehen. Ich war in die Ideologie, die Traumvorstellung, die ich von ihm hatte, verknallt. Aber am Ende war es eben nur das gewesen: Ein Traum.

Dies hier war jedoch die Realität und Jake hatte das schon früher erkannt. Vielleicht hatte er deswegen nie etwas über sich erzählt, weil ihm unbewusst klar war, dass das zwischen uns beiden zu nichts führen konnte. „Nein, bin ich nicht." Und es fühlte sich gut an, diese Worte laut auszusprechen. „Und ich will auch nicht, dass wir wieder da sind, wo wir vorher waren. Vergiss was ich gesagt hatte, von wegen wir wären keine Freunde. Lass uns einfach versuchen alles zu vergessen und von vorne anzufangen."

Liam sah zu dem Sonnenaufgang und legte sich die Worte zurecht. Ich wartete angespannt, verwirrt von mir selbst, auf seine Antwort. Dann kam er zu mir und hielt mir seine Hand hin. „Hallo, ich bin Liam Jefferson, freut mich dich kennenzulernen."

Ich grinste, während ich seine Hand schüttelte. „Ava Hastings. Die Freude ist ganz meinerseits."

*

„Du weißt aber schon, dass du mit zum Spiel fahren musst oder? Es ist schließlich das erste Spiel von deinem Bruder, da ist es Pflicht dabei zu sein. Und du musst selbstverständlich ein Trikot von uns tragen.", erzählte Liam, als wir nach Hause fuhren. Mir fiel auf wie losgelöst er wirkte und stellte fest, dass es mir auch so ging.

Ich lachte und überlegte, wie Liam es schaffen wollte ohne Schlaf zu spielen. Vielleicht würde er sich später noch hinlegen, zumindest hoffte ich das. „Ich habe gar nichts von unserer Schule, aber ich denke ein Pullover wird es auch tun." Den Blick, den er mir zu warf, sprach Bände. Hätte ich gesagt, dass ich nachts gerne kleine Katzen tötete, wäre er vermutlich nur halb so sehr entsetzt. Warum waren Männer nur in manchen Dingen so intolerant? Eine Frauenmannschaft würde das sicher nie interessieren, ob die Fans ihre Trikots trugen oder nicht, solange sie überhaupt da waren.

„Dann wirst du eins von meinen bekommen. Ja das ist eine gute Idee." Selbstzufrieden sah er auf die Straße und bekam nicht mit, wie ich die Augen verdrehte. Wie schwer fiel es ihm wohl gerade sich nicht selbst auf die Schulter zu klopfen? Aber es war mir egal, solange er nicht auf die Idee kam mich wie ein Hund anzupinkeln. Ich war tolerant, aber so etwas würde doch entschieden zu weit gehen. Auf der anderen Seite würde es zu seiner Neandertaler Identität passen. Oh Gott. Ich schüttelte mich kurz und versuchte diesen irritierenden Gedanken schnell aus meinen Kopf zu verbannen.

„Wenn es dich glücklich macht. Aber es könnte sein, dass Davie es mir wegnehmen könnte und in seinem Zimmer aufhängt."

Liam prustete und sah mich von der Seite an. „Warum sollte er das denn tun?"

„Ich kenne niemanden, der so sehr von dir begeistert ist, wie mein Bruder. Wirklich. Er ist beinahe ausgeflippt als er erfahren hatte, dass ich dir Nachhilfe gebe. Und als du ihn in die Mannschaft geholt hast, hat er von nichts anderem mehr gesprochen. Es war wirklich anstrengend und hätte Dad nichts gesagt, dann hätte ich ein Machtwort sprechen müssen."

Er sah mich erst verblüfft an, dann warf er seinen Kopf gegen die Stütze und lachte aus vollem Hals. „Kann ich gleich mit rein kommen und wir tun so, als wären wir ein Paar um ihn zu ärgern?" Was? Was hatte er da gerade gesagt?

„Ähm Liam, warum genau sollten wir das tun?", fragte ich vorsichtig nach.

„War nur ein Scherz.", antwortete er, aber ich merkte wie er sich unbehaglich am Hals kratzte. Trotzdem beließ ich es dabei, lud ich dennoch zum Frühstücken ein. Als Freunde. Nicht als Paar. Manchmal war er wirklich merkwürdig.


DeliriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt