Kapitel 6

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Mein Mund war staubtrocken und ich blieb wie angewurzelt stehen, als ich das kleine, goldene Licht in den Himmel aufsteigen sah. Nochmals musste ich die Geschehnisse in meinem Kopf durchspielen, um vielleicht annähernd verstehen zu können, was eben geschehen war.

Das, was mit dem Körper dieser Person passiert war, hatte meine Vorstellungskraft gesprengt. Als Abariel seinen letzten Atemzug genommen hatte, wollte ich soeben in Tränen ausbrechen, denn es hatte mich nur zu sehr daran erinnert, wie ich mich vor langer Zeit leider erst zu spät von zwei geliebten Menschen verabschieden konnte. Nie würde ich dies nachholen können und dies zerriss mich innerlich schon für eine lange Zeit.

Mein Leben war bisher nicht gerade wie im Bilderbuch verlaufen, sondern es war geprägt von schmerzhaften Verlusten. Schon zwei Mal hatte ich in meinem engen Familienkreis jemanden ziehen lassen müssen. Zuerst war mein Vater an einem Herzinfarkt gestorben. Nachdem wir in einen heftigen Streit über unsere Zukunft verwickelt waren, war ich bei meiner Freundin und ihren Eltern eine Weile untergekommen. Bei dem Streit war es darum gegangen, dass er sein gesamtes Hab und Gut verkaufen wollte, um in einem neuen Land ein neues Leben aufzubauen. Das hatte ich nicht zulassen können. Ich hatte da mein gesamtes Leben aufgebaut, meine Freunde und meine Schule gehabt. Ich hatte Ziele und Träume gehabt, da hatte ich nicht von heute auf morgen verschwinden können. Wir hatten uns so heftig in die Haare bekommen, dass ich den letzten Moment nie vergessen werde, als ich ihn zuletzt lebend gesehen hatte. Ich war stocksauer über seine bereits getroffene Entscheidung gewesen, ohne mich in den Prozess hineingezogen zu haben. Wie konnte er auch, diese Frage stellte ich mir bist heute noch. Ich war aus der Küche gestürmt, hatte die Haustüre aufgeschlagen, wo meine Freundin bereits auf mich gewartet hatte. Mitfühlend hatte er meinen Namen ‚Mayra' gerufen und einmal hatte ich mich kurz umgedreht. Da war er verzweifelnd in der Eingangstür stehen geblieben. Damals hatte ich nur gedacht, dass er sein falsches Mitgefühl jemandem anderen schenken konnte, aber nicht mir. Zwei Wochen später hatte ich den Anruf von seiner Lebensgefährtin bekommen. Keinen so großen Schlag in mein Herz hat mich je mehr getroffen als sein plötzlicher Tod. Zu lange hatten mich die Schuldgefühle geplagt, nicht zuvorkommender gewesen zu sein, doch in meiner damaligen Wut hatte ich nicht anders gekonnt. Es hatte wirklich lange gedauert, bis ich mir das verziehen hatte und könnte ich nur eine Sache in meinem Leben ändern, wäre es unser letzter gemeinsamer Moment gewesen. Dafür würde ich alles geben, denn statt wutentbrannt davon zu stürmen, würde ich eine Sekunde stehen bleiben wollen, mich umdrehen und ihn umarmen. Danach natürlich wieder sauer sein, aber zumindest diese Umarmung würde ich mir holen wollen. Das Schicksal konnte niemand aufhalten und wenn die Sanduhr für jemanden ausgelaufen war. Heute wusste ich jedoch, dass der letzte Moment mit einem Menschen nicht die gesamten Jahre, geschweige denn eine Beziehung definieren. Mit dieser Erkenntnis konnte ich einigermaßen meinen Frieden finden.

Nach seinem Tod lebte ich bei meinem Großvater, der kurz nach meiner Ankunft schwer erkrankte und nach Monaten eines erbitterten Kampfes schließlich ebenfalls verstarb. Obwohl ich ihn gepflegt hatte, kam ich zu spät, um mich von ihm zu verabschieden. Immer trug ich die Hoffnung in mir, es könnte ja doch wieder aufwärts gehen. Doch da täuschte ich mich gewaltig. Ein drückender Kloß hatte sich bei diesen Erinnerungen in meinem Hals angesammelt, der mich fast zum Würgen brachte.

Die Szene mit Abariel, wie rührend Tilonas ihn im Arm gehalten hatte und seine Wange liebevoll berührt hatte, hatte mir meine Wunde wieder von Neuem aufgerissen und schmerzte noch tief in meinem Herzen. Es war, als hätte mir jemand ebenso ein Schwert durch die Brust gerammt und alles würde in Flammen aufgehen und verbrennen, bis nichts mehr übrig blieb.

Doch bevor sich meine Tränen in meinen Augen angesammelt hatten, war sein Körper zu goldenem Staub zerfallen und war hoch in den Himmel hinaufgestiegen. Ich hatte meine Augen weit aufgerissen und beobachtete immer noch völlig verblüfft, das goldene Licht in der Ferne. Ein kleiner Funke stieg in mir hoch, dass ein Himmelreich vielleicht doch existieren könnte. Vielleicht gab es Gott wirklich und Abariel durfte nun zu ihm heimkehren. Ich wünschte es ihm so sehr, wie jedem anderen Menschen auch. Ich kannte keinen Ort, wo ein strahlendes Licht sonst hingehen sollte. Dies bedeutete auch, dass ich meinen Vater, Großvater und all die anderen irgendwann wieder sehen würde oder?

ZARTHs Krieger - Gefangen zwischen Licht und SchattenDonde viven las historias. Descúbrelo ahora