Kapitel 9

308 41 170
                                    

Ein Sonnenstrahl schien mir direkt von den runden Fenstern ins Gesicht. Ich blinzelte ein wenig und drehte mich auf die Seite. Normalerweise konnte ich es nicht ausstehen, wenn Sonnenstrahlen mich aus dem Schlaf rissen. Doch heute war dies etwas anderes. Heute wollte ich so früh wie möglich aufwachen, um mehr herauszufinden, wer ich gewesen war und um den Menschen in dem Chaos helfen zu können. Schließlich musste ich meine Kräfte aktivieren, wenn es stimmte und ich Philomena war. Es war immer noch ein ungewöhnlicher Gedanke.

Neben der Zerstörung da draußen gab es eine Sache, die mich besonders anspornte, in die Gänge zu kommen. Tilonas. Dieses Mal wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass die letzte Nacht kein Traum gewesen war, sondern pure Realität. Tilonas und ich hatten uns, während wir hoch in den Himmel geflogen waren, geküsst. Es war ein traumhafter Kuss gewesen, der die Welt um uns herum zum Strahlen gebracht hatte. Ich lächelte genüsslich bei der Erinnerung daran.

Ich drehte mich nochmals in meinem Schlafsack um und blickte in das Gesicht von Josie. Sie sah so friedlich und entspannt aus, wenn sie schlief, und ahnte vermutlich nicht, in welches Chaos wir geraten waren. Nicht nur die Erinnerungen des Kusses kamen in mir zurück, sondern auch die des Überfalls, der zerstörten Stadt, der Schreie, der Rauchwolken und die der aufgetürmten Schattenwolke über dem Himmel. Nur bei dem Gedanken daran lief mir ein Schauer über den Rücken. Es wurde Zeit, meine Kräfte zu aktivieren, doch wie?

Ich entschloss mich, die Morgenstunde etwas zu nutzen, um mich in der Kirche umzusehen. Vielleicht konnte ich hier einen Auslöser finden, die in mir meine Magie erweckten.

Ich reckte und streckte mich, band meine hellbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Zog mir die frische Kleidung an, die ich mir gestern vor dem Schlafen gehen bereitgelegt hatte. Mein Körper hatte sich nach dem Schlaf wieder regeneriert und meine Arme und Beine waren nicht mehr völlig ausgelaugt. So leise wie möglich rollte ich den Schlafsack und die Schlafmatte zusammen, ohne jemanden aufzuwecken. Im Augenwinkel erkannte ich, dass Tilonas ebenfalls im Saal war und sich mit seinen Engelsfreunden in der Nähe der Statue von Philomena unterhielt. Für mich war es jedoch schwer, die Engel und die Menschen voneinander zu unterscheiden, wenn man rein ihr Äußeres betrachtet. Sie sahen wie jeder andere aus und trugen wie wir Jeanshosen und T-Shirts.

Gestern hatte Tilonas mir beim hinunter spazieren des Turmes erzählt, dass sie noch mehr Menschen von den Schattengestalten hatten bewahren können, doch sie hatten diese in anderen Verstecken untergebracht. Leider waren sie dort nicht sicher und mussten so schnell wie möglich unterirdisch in die Kirche gelangen. Die Straßen waren zu gefährlich und es wäre ein zu hohes Risiko, diese Menschen von ihren Verstecken in die Kirche zu bringen. Tilonas und seine Freunde versuchten einen Weg zu finden, alle Geretteten und Verletzten in die Kirche zu lotsen, da hier Essen, Trinken, medizinische Versorgung, Kleidung und vieles mehr für sie bereitgestellt wäre.

Als er mich erblickte, schenkte er mir ein verlegenes Lächeln. Ich erwiderte dieses schüchtern. Anschließend wandte er sich wieder seinem Engelsfreunden zu und sprach eifrig weiter.

Ich hingegen beschloss, dass ich zuerst die Statuen etwas genauer unter die Lupe nahm und eventuell das Ritual nochmals ausprobierte. Vielleicht war etwas schiefgelaufen und ich hatte nicht alle Kräfte angenommen.

Gemütlich lief ich zu den bronzefarbenen Statuen, die unter dem Licht der Morgensonne majestätisch wirkten. Gestern war noch alles in Ordnung gewesen und ich hatte mich mit einem normalen Studienleben herumgeschlagen. Hätte ich bloß nie das Ritual gemacht. Dann hätte ich das alles vermeiden können, oder? Doch ich hätte nie Tilonas kennengelernt und etwas über die Existenz von Engeln erfahren.

Ich ging einmal im Kreis, um jede Statue genauer zu betrachten. Als wir gestern hier gewesen waren, hatte ich alles ganz anders wahrgenommen. Jede Statue hatte den gleichen entschlossenen Gesichtsausdruck. Die Frau sah mir jedoch keineswegs ähnlich. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, war groß und schlank mit einer perfekten Figur. Ich war zwar ebenso dünn, doch war lange nicht so anmutig wie sie oder ich? Das verwirrte mich immer noch. Ich war gerade mal 160 cm groß, hatte schulterlanges, hellbraunes, welliges Haar und war lange nicht so perfekt wie mein damaliges ich. Dennoch durfte ich nicht vergessen, dass ich jetzt ein Mensch war und damals ein Engel. Wer würde denn schon ein Leben als göttliches Wesen aufgeben wollen ...? Irgendwas musste passiert sein...

ZARTHs Krieger - Gefangen zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt