Kapitel 46

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Kurze Zeit später betrat ich mein Zimmer und setzte mich an meinen Schminktisch. Ich blickte in den Spiegel und entdeckte hauchdünne, goldene Strähnen in meinen Haaren, ohne dass ich sie gefärbt hatte. Gedankenverloren strich ich über meine Haare. Diese konnten nur von einer Person kommen. Philomena. Vielleicht war es das erste Anzeichen, dass ich mich in einen Engel verwandelte? Ohne lange darüber nachzudenken, öffnete ich die Schublade und nahm die Spieluhr in die Hand, die ich darin verstaut hatte.

Ich strich über das dunkelbraune Holz und berührte die handgeschnitzten Elemente, welche den Rand des Deckels zierten. Wie, das waren doch keine zufällig gewählten Ornamente! Das war die göttliche Schrift. Ich drehte sie im Kreis, um lesen zu können, was darauf stand.

"Öffne dein Herz, dann öffnest du mich und ich werde für dich strahlen"

Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte ich mein Herz einer Spieluhr öffnen? Hatte ich vielleicht als Philomena etwas darin versteck? Ich drehte die Spieluhr zur Hinterseite und kurbelte an dem goldenen Griff, um die Musik aufzuziehen. Ich öffnete die Spieluhr und die kleine Ballerina tanzte zur Melodie im Kreis. Daraufhin blickte ich in den kleinen, ovalen Spiegel. Kurz stockte mein Atem, denn ich sah nicht das Gesicht von mir selbst, sondern das von Philomena. Sie lächelte mir freudig zu und ich erwiderte es. Dieses Mal fiel ich nicht in eine Schockstarre, denn so seltsam es klang, ich wusste, dass ich mir gerade selbst aus dem Spiegel zulächelte, auch wenn ich damals anders ausgesehen hatte.

Ein Klopfen an der Türe riss mich aber wieder aus den Gedanken. Schnell klappte ich die Spieluhr zu und stellte sie auf den Schminktisch. Ich wollte sie nun nicht mehr in einer Schublade verstecken. Sie war wie ein Teil von mir und war die Verbindung zu meinem damaligen Ich. Vielleicht würde sie mir ja irgendwann weitere Geheimnisse verraten.

„Herein!", rief ich der Person hinter der Türe zu und stand auf.

Langsam öffnete sie sich und Tilonas und Ouriel traten herein. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie nun friedlich miteinander umgingen. Sie waren wie alte Freunde, die nach einem langen Streit wieder zueinandergefunden hatten. Sie lächelten mich an, doch auch ohne ihre Gedanken zu lesen, strahlten sie etwas Erwartungsvolles aus.

„Wir müssen mit dir reden, Mayra!", setzte Tilonas sofort an, ohne lange um den heißen Brei zu reden.

„Das hab ich mir schon gedacht", entgegnete ich und presste meine Lippen aufgeregt aufeinander. Was wollten sie nun gemeinsam bei mir?

„Wir würden dir gerne erzählen, was zwischen uns dreien in der Vergangenheit passiert ist", kam es nun aus Ouriel hervor und er rieb aufgeregt seine Hände aneinander. Noch nie hatte ich ihn nervös gesehen.

„Ja, wir dachten, nachdem wir uns nach der Schlacht etwas eingefunden haben, wäre es nun Zeit dafür, dich darüber aufzuklären", fügte Tilonas hinzu und mein Blick blieb auf seinen Sommersprossen hängen, die seit dem Ende der Schlacht immerzu fröhlich aus seinem Gesicht strahlten.

„Das weiß ich sehr zu schätzen. Aber ich habe beschlossen, dass ich die Vergangenheit vorerst ruhen lassen will. Irgendwann werde ich meine Erinnerungen zurückbekommen und ich weiß, ich habe sie aus einem guten Grund noch nicht. Darum will ich mich gedulden und darauf warten, bis sie selbst zu mir zurückkommen", sagte ich schulterzuckend und blickte beiden in ihre braunen Augen, „Trotzdem danke für die Ehrlichkeit."

Die beiden wussten nicht, was sie erwidern sollten, und starrten sich nun gegenseitig an. Diese Antwort hatten sie wohl als Allerletztes erwartet.

„Da gibt es aber eines, was wir loswerden müssen, Mayra", kam es nun wieder aus Ouriels Mund.

„Ja, Mayra, uns ist wichtig, dass du das weißt...", fügte Tilonas zögerlich hinzu und sah zu Ouriel.

„Okay?", sagte ich und zog das Wort fragend in die Länge.

„Wir haben aus der Vergangenheit gelernt und wollen dich nicht drängen, dich zwischen uns entscheiden zu müssen. Das musst du nicht", merkte Tilonas an und strich sich dabei über seinen Arm.

„Das hat uns dreien viel Leid zugetragen, weißt du? Wenn du dich je für einen von uns entscheiden solltest, sind uns die Regeln des Bündnisses als Engel egal. Dann sind wir beide bereit, die in Stein gemeißelten Gesetze der Demut zu brechen und zu revolutionieren, die uns verbieten, uns wahrhaftig zu lieben. Das Wichtigste aber ist, dass du glücklich bist und als Freunde sind wir ebenso ein unschlagbares Team", meinte Ouriel und sah nun wieder mich an. Er zog einen Mundwinkel nach oben und formte ein kleines Grinsen.

„Das kann ich mir vorstellen", meinte ich und schmunzelte dabei ebenfalls etwas verlegen. Nun wurde ich dennoch nervös, denn ich war noch nicht bereit dazu, mit der nackten Wahrheit herauszuplatzen, dass ich mit beiden eine ganze Nacht verbracht hatte. Ich brachte es nicht über meine Lippen, auch wenn dies der perfekte Zeitpunkt dafür war. Ich konnte nicht. Ich wollte keinen Streit und dass sie sich in die Haare bekamen. Es sollte so bleiben, wie es jetzt gerade war.

„Wir wissen, dass du uns beide liebst und wir dich beide genau so viel. Egal, was du getan hast oder noch tun wirst. Bitte vergiss das nicht", unterbrach Tilonas meine Gedanken. Ein Funke von Erleichterung quoll in mir, trotzdem wollte ich keinen von beiden verletzten, indem ich dies ihnen ins Gesicht warf. Ich wurschtelte unsicher mit meinen Fingern umher und leise und schüchtern kam aus mir heraus: „Ja, ich liebe euch beide und mir ist es wichtiger, dass wir drei als Freunde vereint sind, als einen von euch zu wählen, den anderen zu verletzten und Streitigkeiten auszulösen."

„Das geht uns genauso", stimmte Ouriel mir zu und sprach dabei für sie beide. Sie schienen sich davor abgesprochen zu haben, wer was sagen sollte.

„Darum muss ich auch sagen, dass es für mich im Moment wichtiger ist, herauszufinden, wer ich selbst als Engel bin. Ich muss mich selbst finden, meinen Stellenwert und meine Aufgaben hier", meinte ich nun ehrlich und sprach mit klarer Stimme, dabei sah ich ihnen abwechselnd in die Augen. Ihre Gesichtszüge waren weich und voller Verständnis.

„Das verstehen wir", sagte Tilonas und kam einen Schritt auf mich zu. Daraufhin reichte mir Tilonas seine linke Hand. Ich nahm sie entgegen und griff nach Ouriels rechter Hand.

Ich sah sie beide liebevoll an und ich fühlte mich in diesem Moment gerade unglaublich glücklich, keinen von ihnen verloren zu haben, und wir diesen Augenblick gemeinsam erleben durften.

AuchOuriel und Tilonas reichten sich ihre Hände und wir schlossen nun endgültigwieder unser Bündnis, das wir schon so lange aus den Augen verloren hatten. Wiedamals auf dem Wandgemälde von uns dreien. Ich ließ meine Kräfte des Lichts unddes Schattens in meine Hände fließen. Auch Tilonas und Ouriel beschworen ihreMacht herauf. Der Schatten und das Licht flossen durch unsere Körper voller Freude,wieder vereint zu sein. Ein Kribbeln breitete sich auf meinem ganzen Körper ausund erfüllte mein Herz mit einer heilenden Wärme. Das Licht und der Schattender Liebe tanzte vergnügt in unserem Dreieck und besiegelten unser Bündnis fürheute und bis auf ewig...

ZARTHs Krieger - Gefangen zwischen Licht und SchattenOù les histoires vivent. Découvrez maintenant