Kapitel 37

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„Tilonas! Lasst ihn frei", sprach ich mit erhabener Stimme, dennoch schossen mir Tränen in die Augen, nicht Ouriel gewählt zu haben. Aber jede Faser in mir schrie, dass ich das Richtige getan hatte. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste Tilonas befreien.

„Ach, mein Bruderherz. Schon wieder hast du verloren. Nicht traurig sein!", sprach sie zu Ouriel und sie tätschelte ihn zur Aufmunterung. Jedoch reagierte er keineswegs weder auf meine Entscheidung noch auf ihre Berührung. Kein Seufzer oder Schluchzen kam aus seiner Kehle. Sagte sie eben Bruderherz zu Ouriel? Das konnte nicht sein. Sie konnten unmöglich Geschwister sein. Niemand hatte mir davon erzählt, dass es das bei Engeln überhaupt gab, aber ich konnte mir darüber gerade nicht den Kopf zerbrechen.

„Gut, zuerst die Kuppel!", forderte sie schließlich, nachdem sie keine Freude an Ouriel finden konnte, eine Reaktion aus ihm heraus zu kitzeln.

„Bestimmt nicht, Tilonas zuerst."

„Beide gleichzeitig, deal?", schlug sie vor.

„Deal", willigte ich ein und nervös strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht und rieb mir die Schläfen. Wenn sie mich betrügt, dann konnte ich das Schutzschild wieder hochfahren - hoffte ich zumindest.

Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, wie all das schöne, strahlende Licht der Kuppel langsam wieder in mich zurückfloss. Dabei bedankte ich mich herzlich bei meinem Licht, so gut auf uns alle geachtet zu haben.

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich tatsächlich, dass all das helle Licht freudig zu mir zurück schwebte. Die Funken wirbelten um mich herum, bis ich es tief in mich einatmete. Auch um mein Herz tanzte es vergnügt und die innerliche Fröhlichkeit erwärmte meinen Körper. Das Licht war jedoch nicht mehr allein und es prallte auf den Schatten in mir. Innerlich stießen sie sich ab und eine Seite meines Herzens war erfüllt mit Licht und die andere mit Schatten. Keiner der beiden war auch nur annähernd begeistert von dem anderen. Es erinnerte mich an zwei streitsüchtige Schwestern, die sich bis aufs Blut nicht ausstehen konnten. Im Moment waren sie je in ihrem Zimmer eingesperrt, aber wehe, wenn sie sich zu Gesicht bekamen.

Hinter dem Licht der Kuppel trat Tilonas aus einer dunklen, schwarzen Wolke heraus, die ihn umhüllt hatte wie die von Ouriel, als er sich entschieden hatte, sich auf die Seite der Meisterin zu stellen. Die Blase verblasste und Tilonas war frei. Auf wackeligen Beinen berührte er den Boden und schwankte hin und her. Sein Blick war gesenkt, dennoch erkannte ich tiefe Augenringe unter seinen ermüdeten Augen. Seine sonst so perfekten Locken waren zerzaust und durcheinandergewirbelt. Vorsichtig hob er ein Bein an und nahm einen Schritt nach vorne, doch seine goldigen Flügel waren zerrupft und hingen an einer Seite schlaff zu Boden. Dies brachte ihn aus dem Gleichgewicht und er kippte nach rechts. Trotzdem schaffte er es, nicht über seine Beine zu kugeln, und fing sich wieder auf. Da wanderte sein Blick zum ersten Mal in meine Richtung. Irritiert schüttelte er seinen Kopf und blinzelte heftig mit seinen Augenlidern.

„Mayra?", flüsterte er kaum hörbar mit einer krächzenden Stimme.

„Tilonas, du bist frei, du bist nicht mehr in dieser Welt gefangen!", rief ich ihm zu und mir stiegen die Tränen in die Augen. Er war endlich wieder zurück, befreit von dieser bitterlichen Dunkelheit. Wie sehr er wohl gekämpft haben musste, dass er ihr nicht verfallen war, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich atmete erleichtert auf, denn ein kleiner Sieg konnten wir bereits errungen oder? Tilonas schüttelte wiederum ungläubig den Kopf, doch seine Benommenheit schien mit einem Mal wie weggeblasen zu sein. Er richtete sich selbstbewusst wieder auf und in seinem Gesicht schien die Sonne. Seine Sommersprossen tänzelten fröhlich auf seiner Nase und schnurstracks rannte er auf mich zu. In seinem Gesicht konnte ich Tränen der Erleichterung und der Freude erkennen. Mein Herz begann aufzublühen und endlich war Tilonas wieder da. Er zog mich in eine Umarmung und ich konnte seinen beschleunigten Herzschlag spüren. Er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren und ein helles Licht umhüllte uns dabei. Das Licht von Tilonas. Er hatte all die Zeit, nicht aufgehört zu kämpfen und sich nicht der dunklen Seite hingegeben.

ZARTHs Krieger - Gefangen zwischen Licht und SchattenWhere stories live. Discover now