Kapitel 34

110 19 65
                                    

Versteinert und völlig leer gefegt, schleifte ich mich erschöpft die Treppen hoch. Mein Herz war wie eingefroren und nicht einmal mein Puls nahm ich mehr wahr. Lebte ich überhaupt noch? Die Erkenntnis, dass wir nicht im Geringsten eine Chance gegen die Meisterin hatten, ließen mich zurück wie ein Zombie, dem bereits jedes Leben genommen wurde. Bei der Engelsratssitzung konnten wir nach Stunden an Diskussionen keine Lösung finden, wie wir weiter vorgehen sollten. Jeder Engel, den wir in den Krieg ziehen lassen würden und der für unsere Seite sterben würde, würde bei ihren Fronten als sagenhafte Kraft der Finsternis enden. Wie konnten wir sie je aufhalten? Niemand von uns besaß so eine Macht, um alles wieder ins Lot zu rücken. Meine Beine wurden schwach und ich taumelte nach vorne. Mit meinen Knien prallte ich an der Kante der Stufe ab und mit meinen Armen stütze ich mich gerade noch rechtzeitig ab. Wie betäubt konnte ich keinen Schmerz mehr fühlen. Was hatte ich nur getan? Die einzige Person, die annähernd helfen konnte, hatte ich ins Exil verbannt und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn zurückholen sollte. Wie konnte ich mich von meinen Emotionen nur leiten lassen? Die Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln und ich schluchzte. Mühselig griff ich nach der Steinmauer und zog mich wieder auf die Beine. Es waren nur noch wenige Meter zu meinem Zimmer, doch bei jedem Schritt musste ich mich an der Mauer festhalten und mich nach oben zerren.

Bestimmt hatte ich mich heute maßlos übernommen. Die ganzen Kräfte, die ich angewendet hatte, um Ouriel zu verbannen, die Kuppel, die ich aufrechterhalten musste, meinen Fehler, den ich nicht ausbügeln konnte und die Erkenntnis, dass wir geschlagen waren, ließen mich ausgebrannt zurück. Nachdem ich Ouriel ins Nirgendwo geschleudert hatte, die anderen Engeln ebenfalls wieder zur Vernunft gekommen waren, hatten sie Meotune sofort losgeschickt, um ihn zu suchen. Würde er ihn finden können? Zum Glück machten sie mir keine Vorwürfe, die machte ich mir schon selbst.

Nur keuchend konnte ich die letzte Stufe überwinden und nahm verschwommen den Türgriff zu meinem Zimmer wahr. Endlich war ich oben angekommen und gleich konnte ich mich ausruhen. Nur noch wenige Meter trennten mich von meinem Bett. Konnte es sein, dass auch meine Kräfte des Lichts langsam schwanden? War das möglich? Denn letztes Mal, als ich meine Finsternis eingesetzt hatte, war ich nicht einmal annähernd so ausgelaugt gewesen. Ich legte meine Hand auf den Griff der Türe zu meinem Zimmer, drückte langsam nach unten und sie öffnete sich mit einem Knarren. Ich biss mir auf die Zähne, denn dieses Geräusch quietschte in meinen Ohren. Hilflos blieb ich im Türrahmen stehen, denn das Bett schien mir Kilometer weit entfernt zu sein. Ich kniete mich zu Boden, um die letzten Meter zu kriechen. Ein bleischweres Buch nach dem anderen schob ich beiseite. Wie sollte ich es bis dahin schaffen? Träge bewegten sich meine Arme und Beine vorwärts. Was war nur los mit mir? Auch beim Kriechen kam ich nicht wirklich schneller vorwärts und benötigte mehr Kraft, als wenn ich gehen würde. Doch mich wieder auf die Beine zu stellen, schaffte ich nicht mehr. Ich krallte mich in die Fasern des Teppichs, um zumindest meinen gesamten Körper auf den Orientteppich zu bringen, damit ich mich von dem kalten Untergrund nicht erkälten konnte. Ein Knie nach dem anderen schleifte ich nach vorne, bis ich mit einem Stöhnen schließlich auf dem verstaubten, ekligen Teppich zur Seite kippte. Irgendwie fand ich ihn auch gemütlich und meine Arme und Beine entspannten sich umgehend, als ich mich fallen ließ. Nicht einmal mehr bewegen konnte ich mich, um mich auf den Bauch zu legen, welche meine Lieblingsschlafposition war. Das Zimmer war dunkel, doch von dem leuchtenden, goldenen Licht der Kuppel konnte ich die Umrisse der Möbel erkennen. Da war der Schminktisch und das Bücherregal und meine Augen wurden schwer. So schwer, dass ich sie nicht mehr offen halten konnte.

Mit einem Stöhnen wachte ich aus einem tiefen Schlaf auf. Mein Rücken schmerzte und brannte wie Feuer vom harten Boden. Wie lange hatte ich wohl geschlafen? Meine Arme und Beine konnte ich wieder bewegen und sie schienen sich etwas erholt zu haben. Es war immer noch dunkel da draußen. Schlaftrunken setzte ich mich auf und wollte mich gerade in mein weiches Bett legen. Da sah ich all die vielen Bücher um mich herum. Mir fielen plötzlich die ganzen handgeschriebenen Schriften wieder ein. Wenn ich die göttliche Sprache sprechen als auch verstehen konnte, dann ganz bestimmt auch lesen. Mit einem Satz stand ich auf und schaltete das Licht ein. Etwas schwindelig vom schnellen Aufstehen, setzte ich mich wieder auf den Teppich. Hastig schweifte ich über die Bücherstapel hinweg und begann sie zu sortieren. Alles kam mir zwischen die Finger, Shakespeare, Hemingway, Murakami, Dickinson, Brecht, Hesse, Kennyatta, Schiller, Goethe, Conan Doyle,... in allen verschiedenen Sprachen und Ausgaben. Dann fand ich sie, versteckt unter den ganzen Stapeln der anderen. Ich zog ein Buch heraus. Es hatte einen braunen Ledereinband und kam mir vor, als wäre es aus dem Mittelalter. Ich schlug die vergilbten Seiten auf. Die Schrift war beinahe verblasst, aber trotzdem noch halbwegs zu lesen, und ich war mir sicher, es musste die göttliche Sprache sein. Zuerst sah die Schrift nach Hieroglyphen aus, doch je länger ich sie betrachtete, desto mehr machten sie Sinn...

ZARTHs Krieger - Gefangen zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt