Kapitel 8

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Was würde mich auf der Spitze des Turmes erwarten?

Tilonas sah mich besorgt an und ging dann mit schwungvollen Schritten wieder die Stufen hoch. Ich tapste ihm unsicher hinter her, denn vielleicht würden die Kameraleute oben auf mich warten.

Doch als ich die letzten Stufen bereits zählen konnte, roch ich den stark verbrannten Geruch in meiner Nase, so als hätte jemand gerade einen Scheiterhaufen abbrennen lassen. Nun war ich mir bereits sicher, dass Tilonas mich nicht auf den Arm nahm. Er war oben angekommen und reichte mir die Hand für den letzten Schritt.

„Ich möchte dich nicht verängstigen, doch du musst die Wahrheit wissen."

Ich atmete einmal tief ein, bevor ich den Schritt über die Schwelle wagen würde. Eine Person von eben hatte zwar gemeint, dass da draußen die Hölle ausgebrochen war, doch ich konnte mir das bei bestem Willen nicht wirklich vorstellen. Meine Hände zitterten bereits, als ich Tilonas Hand ergriff, und ich kratze all meinen Mut in mir zusammen, obwohl mein Herzschlag sich bereits beschleunigt hatte. Am liebsten wäre ich wieder die Stufen hinuntergerannt, nur um zu vermeiden, welcher Anblick ich gleich zu sehen bekam. Wackelig setzten sich meine Beine jedoch in Bewegung und nun gab es keinen Weg mehr daran vorbei. Ich musste wissen, was passiert war. Oben angekommen richtete ich meinen Blick nach unten und erst als Tilonas und ich ans Geländer traten, konnte ich das gesamte Ausmaß der Geschehnisse auf einem Schlag erblicken, denn auf der Spitze des Turmes war die ganze Stadt zu sehen.

Mir verschlug es den Atem und ich taumelte ein paar Schritte nach hinten, was aus dem altbekannten Rom geschehen war. Tilonas stand neben mir und berührte sanft meinen Rücken, um vor Schock nicht zu stürzen. Sein Griff war warm und gab mir Sicherheit, nicht sofort meine Augen vor dem Chaos wieder zu schließen. Wo man auch hinsah, war nichts als Zerstörung zu sehen, brennende Häuser, Menschen, die in Panik schreiend umher rannten, zerfallene Gebäude, ausgebrannte Autos, kreischende Kinder, Rauchwolken, die in den Himmel stiegen... Kein Bauwerk wurde verschont. Nicht einmal eine Kirche, die sich etwas weiter entfernt befand. Ich erkannte die beiden Türme, die noch immer in Flammen standen. Es musste die ‚Trinità dei Monti' sein, die Josie und ich vor ein paar Tagen besucht hatten.

Über die Stadt hat sich ein Schleier an dunklen Schattenwolken gelegt, wie die in der Gasse, die uns angegriffen hatten. Zwischen den Schatten blitzten etliche große, goldene Schimmer hervor. Immer wieder prallte das Licht auf die Dunkelheit, welches einen lauten Knall von sich gab. Es war, als würde gerade ein heftiges Gewitter mit Blitz und Donner in der Ferne toben, nur der Regen fehlte. Jeder Aufprall gab mir einen Stich in mein Herz. Es war die reinste Qual, dies anzusehen. Tränen kamen in mir hoch. Meine Zweifel waren nun wie weggewaschen und ich wünschte mir innig, es wäre einer gewesen.

Was war denn nur geschehen?

„So wird es früher oder später überall auf der Welt aussehen, wenn nicht schon jetzt, aber das ist nur der Anfang. Wir tun, was wir können, doch bisher konnten wir bis auf die heutigen Rettungen nur Niederlagen verzeichnen. Denn wir wissen nicht, wie wir die Schattengestalten aufhalten können. Von Mal zu Mal werden sie stärker und wir dabei schwächer", erklärte Tilonas enttäuscht und er trat nun neben mich an das Geländer des Turmes.

„Was machst du noch hier Tilonas? Du musst gehen! Du musst ihnen helfen! Also geh!", forderte ich ihn mit aufbrausender Stimme auf.

„Das tue ich doch bereits. Sogar einer der wichtigsten Aufgaben. Es ist ein Wunder, dass wir es rechtzeitig geschafft haben, dich von den Schatten zu befreien. Mit dir an ihrer Seite hätten ...", er seufzte schwer und fügte hinzu, „hätten wir keine Chance, sie jemals aufzuhalten."

„Ich bin doch nicht wichtiger, als die Welt zu retten", schrie ich ihn wütend an und zeigte mit dem Zeigefinger auf die umliegende Zerstörung, die da draußen herrschte.

„Du verstehst es nicht. Du warst und bist immer noch einer der wichtigsten Engel, die es gibt. Deine Kräfte sind ein reines Feuerwerk. Was meinst du denn, warum die Meisterin dich entführen wollte? Warum die Stadt so aussieht? Sie durchkämmen jede noch zu kleine Ecke nach dir. Sie wollen dich so verzweifelt, wie wir dich brauchen. Jetzt haben wir wieder Hoffnung, doch es wird Zeit, dass du zu uns zurückkommst. Wir brauchen dich, Philomena. Ich bitte dich", bat er mich und legte sanft seine Hand auf meine, die sich in das Geländer festgekrallt hatte, ohne dass ich es bemerkt hatte. Seine Augen waren voller Verzweiflung, doch trotzdem mit so viel Hoffnung erfüllt. Ich konnte seinen Schmerz in mir fühlen. Es war, als würde mein Herz in tausend winzig kleine Stücke zerspringen. Er hob nun seine andere Hand und streichelte zärtlich meine Wange: „Ich brauche dich. So lange ohne dich. Das ertrage ich keinen Tag länger. Es wird Zeit das Vergangene ruhen zu lassen Philomena. Es war nicht deine Schuld und tief in dir weißt du das ganz genau. Hörst du mich?"

Ich wollt etwas tun, etwas sagen, doch was? Ich spürte die Qual und die Traurigkeit, die er seit all den Jahren verspürt hatte, doch außer das und die Wut in mir, was in dieser Stadt passiert war, regte sich nichts. Kein mysteriöses Kribbeln, dass ich damals in meinen Händen verspürt hatte, und auch kein Lichtfunke. Keine Philomena, die in mir erwachte. Nichts. Was hatte er damit gemeint, dass es nicht ihre Schuld gewesen war? Was sollte sie, oder ich, denn in meinem Inneren wissen? Das brachte nur noch mehr Verzweiflung in mich hinein und mein Gehirn pochte an die Außenwand meiner Schädeldecke. Ich schüttelte meinen Kopf und merkte wie Traurigkeit in mir hochkam, meine Augenwinkel sich füllten, da ich mich nur zu gerne erinnern wollte. Was war denn an mir so wichtig?

„Es tut mir leid, Tilonas."

Zwar konnte man die Enttäuschung in seinen Augen erkennen, doch seine Hoffnung und Optimismus verblasste deswegen keineswegs, als er mich anlächelte. Nun zog er mich zu sich heran und nahm mich in seine starken Arme.

„Keine Sorge, der richtige Moment wird kommen. Ich kann warten", flüsterte er in mein Ohr.

Er konnte vielleicht warten, doch die Welt bestimmt nicht. Ich wollte diesen Gedanken jedoch nicht weiterverfolgen. Stattdessen schloss ich meine Augen und genoss genau diesen Moment. Ich roch seinen süßen Duft an ihm, dass mich zum Schweben brachte. Eine ganze Weile blieben wir in unserer Umarmung, bis ich die Augen öffnete. Da bemerkte ich, dass wir Wort wörtlich schwebten. Denn wir waren nun nicht mehr im Turm, sondern flogen hoch über den Türmen der Kirche. Da erblickte ich Tilonas goldene Engelsflügel, die sanft in der Luft schlugen. Es war absolut magisch und ich konnte meinen Augen kaum trauen.

Ich löste mich etwas aus der Umarmung, um Tilonas ins Gesicht zu blicken. So nah bei ihm konnte ich seine Sommersprossen beinahe schon auf seiner markanten Nase zählen. Ich lächelte ihn verzaubert an und mein Blick blieb auf seinen rosafarbigen Lippen hängen, die ebenso ein Lächeln formten.

„Ich sagte doch wart's nur ab", meinte er und zwinkerte mir zu.

„Das ist der Wahnsinn!", sprach ich absolut hingerissen von diesem Moment.

Dann fuhr er mir mit seiner Hand zärtlich durchs Haar und sah mir tief in die Augen. Er kam nun etwas näher auf mich zu und ich konnte seinen Atem auf meinen Wangen spüren. Mein ganzer Körper kribbelte, mein Herz schlug schneller und begann zu leuchten. Es strahlte wie ein heller Stern, der vergessen hatte, wie das Leuchten einzuschalten war. Tilonas beugte sich weiter vor und küsste mich auf die Lippen. Es war ein Kuss, der dir die Luft zum Atmen wegnahm vor Überwältigung. Seine sanften Lippen bewegten sich langsam und gekonnt. Wir schwebten entspannt im Kreis durch den Himmel und unsere Herzen schimmerten, um die Finsternis zu verdrängen. Wir waren nicht mehr zwei einzelne Sterne, die für sich selbst leuchteten, sondern eine Sonne, die hell und klar in die Dunkelheit strahlte.

ZARTHs Krieger - Gefangen zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt