Kapitel 36

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Ich dachte lange und gründlich über alles nach. Damals hatte ich so viele Fragen. Warum müssen die Menschen, die ich eigentlich nie wieder sehen wollte wieder in meinem Leben erscheinen? Kann ich nicht einfach normal leben und glücklich sein? Muss ich wieder zu einem schlechten Menschen werden? Habe ich kein Recht auf Frieden? So unglaublich viele Fragen. Es waren zu diesem Zeitpunkt genau die selben Fragen, die ich mir damals, während meiner kriminellen Zeit auch immer gestellt hatte. Doch am Ende gab es nie eine richtige Antwort. Es gibt bis heute schließlich keine Antwort auf all diese Fragen. Sie blieben immer ungeklärt. Ich nahm meinen schwarzen Mantel, zog meine Schuhe an, nahm meine Schlüssel und schlich mich langsam nach draußen. Ich setzte mich in mein Auto. Kurz schaute ich auf den Display meines Handys, um die Uhrzeit zu erfahren. Fünf Uhr morgens. Die Stadt erwachte und ich konnte fast die ganze Nacht kein Auge zu kriegen. Seufzend steckte ich mein Handy in meine Jackentasche und fuhr los. Ich hatte das Bedürfnis zum Friedhof zu fahren. Ich weiß bis heute nicht, weshalb ich das getan hatte. Doch etwas in mir wollte zu diesem Ort. Die Fahrt dauerte etwas, doch irgendwann, ohne es zu bemerken, kam ich an. Die ganze Fahrt über war ich tief in meinen Gedanken versunken. Ich stieg aus dem Auto und ging in den Friedhof hinein. Hier war es ziemlich finster. Wegen dem Nebel konnte ich fast gar nichts erkennen. Doch ich suchte trotzdem nach einem bestimmten Grabstein und fand ihn irgendwann schließlich auch.

Cansu Yalçin.
Geboren: 26.12.1998
Gestorben: 19.11.2013
,,Am Ende sind uns nur all die Erinnerungen, die wir an dich haben, geblieben.
Nun bist du ein Engel und wachst über uns.
Unser Engel.
Ruhe in Frieden.
Unsere geliebte Cansu''

Während ich die Inschrift auf dem Grabstein las, füllten sich meine Augen automatisch mit Tränen und mein Herz fing an zu schmerzen. Ich hatte diesen Ort und diesen Grabstein bis jetzt nur einmal gesehen. Das war bei ihrer Beerdigung gewesen. Doch nun stand ich wieder hier. Das war der Grabstein meiner kleinen Schwester Cansu. Ich kniete mich hin und weinte. Ich konnte meinen Schmerz einfach nicht zurückhalten und wiederholte immer wieder die Worte "Es tut mir leid", während ich meinen Tränen freien Lauf ließ. Ich berührte die Erde, unter der Cansu begraben war und streichte darüber. Ich hätte sie besser beschützen sollen. Ich hätte achtsamer sein sollen. Ich hätte ein besserer großer Bruder sein sollen. Dann wäre das nicht passiert. Dann würde sie jetzt villeicht noch am Leben. Ich hätte Mert umbringen sollen, dachte ich mir voller Reue. Warum verschonte ich ihn? Er hatte meiner kleinen Schwester das angetan. Warum hatte ich meine Rache beendet? Nur weil ich vermutete, dass ich Deniz Mörder sein könnte?

Aber es könnte doch genauso gut Mert sein, dachte ich mir. Es war schließlich nicht sicher, wer der Schuldige war. Außerdem lag dieser Vorfall Monate zurück. Warum hatte ich einfach aufgegeben? War ich wirklich so feige?
War ich so schwach? Ich dachte nach und wischte mir meine Tränen nach einiger Zeit weg. Warum weinte ich? Ich hatte doch alles, was ich brauchte. Eine Frau, die mich liebt, Erfolg und ich war gesund. Warum bin ich dann traurig?, fragte ich mich verwundert. Meine Firma war in den letzten Monaten immer erfolgreicher geworden, dass sie nun auch immer mehr in den Medien zu sehen war. Sie war weltbekannt und ich somit auch. Erfolgreicher ging es nicht. Ich hatte gelernt und akzeptiert, Leyla zu lieben. Sie liebte mich genauso. Unsere Ehe war perfekt. Schöner konnte mein Leben nicht sein. Warum also genau war ich niedergeschlagen?

Ich stand irgendwann dann auf, dachte lange nach und blickte dann in den Himmel. Es schneite. Ich spürte, wie die kalten Schneeflocken auf mein Gesicht flogen und schloss meine Augen. Ich hörte nur den Wind und das Rascheln der Bäume. Ich wollte an nichts mehr denken. Doch vor der Realität konnte ich nicht fliehen. Die Realität, dass es noch nicht zu Ende war und alles wieder anfing. Die Realität war schließlich, dass Mert wieder zurückgekehrt war und ich wieder kämpfen musste. Doch ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht, dass Mert nicht mein einziges Problem sein würde. Nachdem ich eine Weile hier stand, verabschiedete ich mich von Cansu und ging zurück zu meinem Auto. In meinen Auto sitzend dachte ich dann wieder nach. Gedankenverloren blickte ich auf die leeren, finsteren Straßen, die von den Straßenlaternen beleuchtet wurden. Würde das wieder meine Bestimmung werden? Mein Alltag? Würde ich wieder auf den Straßen sein und dort wieder das tun, was ich ständig bereut hatte?, fragte ich mich.

Seufzend schaute ich auf mein Handy. Ich hatte eine Nachricht von Aleyna und eine von Mert. Ich las zuerst die von Aleyna.
"Das wirst du bereuen", hatte sie geschrieben. Genervt seufzte ich auf und las danach, ohne ihr zu antworten, Merts Nachricht.
"Wir werden uns sehr bald sehen, Can. Mach dich auf unser Wiedersehen gefasst", hatte er geschrieben. Auch ihm antwortete ich nicht. Ich hatte einfach keine Nerven dafür und war am verzweifeln. Ich wollte es so sehr vermeiden. Ich wollte nicht wieder etwas mit Mert zu tun haben. Ich wollte mich nicht wieder in Gefahr begeben. Doch ich wusste auch, dass es keine andere Möglichkeit gab. Leyla und ich werden wieder in Gefahr sein. Wir werden wieder auf eine harte Probe gestellt werden und an unsere Grenzen stoßen. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass einer von uns beiden am Ende sein wird. Entweder sie oder ich. Ich hoffte tief in meinem Herzen, dass ich es sein würde. Leyla durfte nicht wieder am Ende sein. Wenn das geschieht, schwor ich mir, würde ich mir das nie wieder verzeihen. Ich mussze sie beschützen und dieses Mal noch viel besser, als zuvor.

Mert POV

Grinsend saß ich auf meinem Sessel. Ich bin wirklich ein Genie, dachte ich triumphierend. Ich hatte es tatsächlich wieder geschafft, dieses Gangsterleben zum Leben zu erwecken. Can wird gar keine andere Wahl haben, als zurück zu kehren. Er wird wieder vor mir stehen und gegen mich kämpfen. Egal ob er will oder nicht, dachte ich mir zufrieden. Ich kannte Can sehr gut.Er würde sein Gangsterleben niemals einfach so für immer aufgeben. Dafür war er ein viel zu großer Kämpfer und besaß einen viel zu großen Stolz. Er brauchte dieses Dasein. Er brauchte diese Seite. Ohne sie existierte er in dieser Stadt überhaupt nicht. Der Grund, weshalb ich wieder zurück war?

Ja, ich hatte Deniz getötet. Ich war der Mörder. Ich wusste selbst, dass ich der Mörder war. Ich wusste es schon immer. Can hatte Deniz mit Absicht knapp am Herz verfehlt. Can könnte niemals der Mörder sein. Er könnte niemals eine Person umbringen und er ist der Beste, wenn es um das Schießen geht. Er beherrschte es sehr gut. Wenn er wollte, hätte er Deniz sofort mit einem Schuss töten können. Doch das hatte er nicht getan. Ich war es, der Deniz in das Herz geschossen hatte und es war genau auf die Art und Weise passiert, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Aus Wut. Genau wie ich es Can damals erzählt hatte. Aus Wut hatte ich damals auf Deniz geschossen. Einfach so, ohne nachzudenken. So wurde ich dann schließlich mal wieder zu einem Mörder und hatte somit nun noch einen Menschen auf dem Gewissen.

Doch niemand wusste es jemals. Es war ein dunkles Geheimnis, welches allen verborgen blieb. Can dachte bis heute, dass er der Mörder wäre. Doch die Warheit war, dass ich es gewesen bin. Es machte mir aber eigentlich nichts aus. Schließlich hatte ich auch schon Cans Schwester erschossen und viele weitere darauf folgende.
"Was passiert als nächstes, Mert?", fragte mich die Person, die mir weiterhelfen könnte, Can ein für alle mal zu besiegen. Ich grinste und blickte sie gerissen an.
"Als nächstes steht das Treffen an. Das Treffen und somit der Anfang eines neuen Kapitels. Mach dich darauf gefasst, Can Yalçin. Das ist dieses Mal dein Untergang. Am Ende werden deine Feinde dich besiegen. Nicht wahr, Aleyna?", sagte ich amüsiert und blickte zu ihr.
Sie nickte und grinste. Mit ihr an meiner Seite, würde ich das erreichen, was ich will, dachte ich. Schließlich verfolgte sie das selbe Ziel wie ich. Wir beide wollten Cans Untergang. Doch nicht nur Cans. Natürlich auch Leylas. Sie steckte ebenfalls nun mittendrin. Beide werden leiden. Das hatte ich mir geschworen. Aleyna und ich hatten uns deshalb nun miteinander verbündet. Sie war nun meine Verbündete, meine Komplizin. Die Frau, die nun eine wichtige Rolle in dieser Geschichte, in diesem Spiel spielen wird. Aleyna Yoksul.

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