Kapitel 61

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Nein. Ich darf mich von meinen Gefühlen nicht beeinflussen lassen und mich schon gar nicht überwältigen lassen. Ich habe gelernt als ein Einzelgänger zu leben und Gefühle zu meiden. Deswegen werde und kann ich sie nicht beachten. Sie in meine Arme schließen kann ich erst recht nicht. Für uns beide gibt es kein Happy End. Also muss ich mich zusammenreißen. Konzentration. Dies versuche ich mir die ganze Zeit selbst einzureden. Ich darf keine Schwäche zeigen. Sie ist Vergangenheit.
"Sie sind also die neue Angestellte, Leyla Yalçin", sage ich, während sie mich nur perplex anschaut. Den Nachnamen versuche ich dabei nicht zu beachten.
"Can, ich-", ich unterbreche sie.
"Für Sie heißt es ab heute Herr Yalçin. Vergessen Sie nicht, dass ich Ihr Chef bin", erklärte ich ernst und sah den Schmerz in ihren glasigen Augen. Nein. Bitte nicht dieser Schmerz. Den kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Mir ist zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, dass sie mein distanziertes Verhalten verletzt. Doch ich hätte niemals gedacht, dass es sie so sehr verletzt. Aber was soll ich sonst machen? Ich möchte mich nicht binden und sie wieder in Gefahr bringen. Deshalb ist es so am Besten. Für uns beide. Gefühle verachten und auf die Arbeit konzentrieren. So muss es sein. Ich muss mich auf mein Leben als Einzelgänger konzentrieren. Nur das zählt für mich. Etwas anderes nicht. Vor allem nicht Leyla. Sie ist jetzt nur noch eine Angstellte in meiner Firma. Mehr darf sie nicht sein. Das wäre zu riskant. Genau so möchte ich sie beschützen. Mit dieser Distanz. Auch wenn es sie verletzt und mir im Herzen weh tut muss es nun mal sein. Ich muss den gefühllosen Bastard spielen.

Leyla POV

Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum tut er so als würde er mich nicht kennen? Warum ist er so distanziert? Und warum kann ich in seinen Augen nichts erkennen? Sie wirken so leer und kalt. Als hätte er keine Gefühle. Das ist beängstigend. Das ist nicht Can. Tut er das mit Absicht? Es ist so, als wäre zwischen uns eine große Mauer, die ich nicht durchbrechen könnte. Eine Blockade.
"Warum tust du das?", frage ich ihn, während mir die Tränen kommen. Er sagt nichts und blickt mich so an, als hätte er überhaupt keine Ahnung davon, was ich gerade meine. Das macht mich unfassbar wütend. Ohne darüber nachzudenken packe ich ihn leicht am Kragen und blicke ihm tief in die Augen. Meine Wut vermischt sich gerade mit dieser unendlichen Trauer.
"Ist das Absicht? Hast du dir in all den Jahren etwa beigebracht mich zu hassen?", frage ich ihn schmerzerfüllt und auffordernd. Er blickt mich nur weiterhin emotionslos an und entfernte meine Hände seufzend von seinem Kragen. Fühlt er denn überhaupt nichts?
"Nehmen Sie sich zurück, Frau Yalçin. Das könnte sonst ein Nachspiel für Sie haben", sagt er nur, woraufhin ich lache. Was war das gerade eben?

"Nachspiel? Das ist das Lächerlichste, was ich jemals gehört habe. Aber egal. Du wirst noch sehen. Jetzt zeigst du deine Gefühle nicht, aber ich werde das nicht einfach so durchgehen lassen. Warte nur ab. Den hier trage ich nämlich nicht umsonst ", sage ich mutig, halte meine Hand hoch, um ihm meinen Ehering zu zeigen, auf den er starrt und verlasse dann sein Büro. Das klang gerade wie eine Kampfansage. Als hätten wir Krieg. Ich habe eine unglaubliche Wut auf meinen eigenen Mann. Seinen Blick am Ende habe ich nicht ganz einordnen können. Vielleicht ist er überrascht oder geschockt gewesen. An seinem Finger habe ich keinen Ring gesehen. Er ist also fest davon überzeugt, das alles komplett zu beenden und mich wie eine Fremde zu behandeln. Seufzend begebe ich mich aus der Firma und setze mich auf eine Bank. Ich fühle mich, als wäre ich wieder 17. Hass und Liebe hatten mich damals auch so in der Hand gehabt. Doch egal, was er tut, ich liebe ihn trotzdem. Das wird sich niemals ändern. Es ist unmöglich ihn von tiefstem Herzen zu hassen. Dafür liebe ich ihn viel zu sehr. Ich möchte diese Mauer zwischen uns unbedingt durchbrechen. Ich möchte zu ihm durchdringen und wieder in seinen Armen liegen. Ich möchte meinen Ehemann wieder zurück. Warum fühlt sich alles so merkwürdig und ungewohnt an? Dieses Gefühl und diese Situation gefallen mir überhaupt nicht. Nach langem nachdenken sowie weinen begebe ich mich wieder in die Firma. Schließlich ist meine Arbeitszeit noch nicht vorüber.

Nun stehe ich in meinem neuen Büro. Es ist wirklich modern und ordentlich eingerichtet. Doch leider gibt es einen weiteren Haken. Mein Büro befindet sich genau neben dem von Can. Zu allem Überflüss habe ich auch noch erfahren, dass ich seine Assistentin sein werde. Er ist der Boss und ich seine Assistentin. Ich bin seine zweite Hand. Die Assistentin der Geschäftsleitung. Für jeden ein Traum. Für mich ein Alptraum. Wer hat das bitte entschieden? In der Firma tuscheln derweil alle über mich und Can, da sie alle natürlich wissen, wer ich bin.
"Sie ist doch die Ehefrau vom Chef oder etwa nicht?", kam es von den einen.
"Sie ist so unglaublich hübsch. Der Chef uns sie passen wirklich gut zusammen", kam es von den anderen. Es gab noch viele andere Bemerkungen. All die Angestellten fingen an zu spekulieren. Sie fragen sich, was mit uns beiden los ist, da wir ja schließlich miteinander verheiratet sind. Aber es gibt keine schlechten Bemerkungen. Alle finden, dass wir wie füreinander geschaffen sind. Von wegen füreinander geschaffen. Wir haben uns getrennt. Das ist die Warheit. Das ist die Realität. Wir sind kein perfektes Paar. Das waren wir auch nie gewesen. Alles Lüge. Ich versuche meine Arbeit so gut wie möglich zu machen. Aber ich glaube langsam wirklich, dass Can mich ständig absichtlich kritisiert. Einmal ist das nicht richtig, dann stimmt das nicht, dann ist wieder das nicht perfekt. Ich kann es ihm nie Recht machen und bleibe nächtelang auf, um darüber nachzudenken, was denn eigentlich genau meine Fehler sind und an was es mir mangelt. Aber egal, wie oft und wie lange ich darüber nachdenke, ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Er tut das alles absichtlich, nur um seine Gefühle zu ignorieren. Das ist nicht zu übersehen.

Inzwischen sind schon zwei Wochen vergangen und ich bin ziemlich fertig. Die Arbeit macht mir wirklich zu schaffen. Mit jedem Tag verletzt es mich auch ein Stück mehr, dass Can mich so behandelt. Außerdem streiten wir uns auch sehr oft über unnötige kleine Dinge. Wie zwei sture kleine Kinder, die sich nicht ausstehen können. Ja es ist falsch von mir, so zu handeln. Trotzdem. Nichts gibt ihm das Recht mich wie Dreck zu behandeln. Was ist nur mit ihm geschehen? Er war doch derjenige gewesen, der mich nachts immer wegen meiner Albträume getröstet hat. Er war doch derjenige gewesen, der mich geheiratet und mit mir ein Kind bekommen hat. Er sagte mir immer, dass er mich lieben und immer beschützen würde. War das alles etwa eine Lüge gewesen? War das alles umsonst gewesen? Hat das alles keine Bedeutung mehr für ihn? Unsere Liebe. Unsere Tochter. Unsere Ehe. Ist ihm das überhaupt nicht mehr wichtig? So scheint es. Er hat sich verändert. Als wäre er eine andere Person. Er hasst mich. Abgrundtief. Bei dieser Vorstellungen kommen mir immer wieder die Tränen. Auch wenn er es nicht gesagt hat, sehe ich es ihm deutlich an. Er hasst mich. Mein eigener Mann hasst mich aus tiefster Seele. Das zu wissen schmerzt. Es tut mir im Herzen weh. Warum muss er mich nur so verletzen?

Can POV

Zwei Wochen. Seit zwei Wochen arbeitet Leyla schon als meine Angestellte. Sie macht ihren Job wirklich hervorragend, aber ich kann und will sie einfach nicht loben. Wenn ich sie lobe, wird sie lächeln und wenn sie lächelt, wird mein Herz höher schlagen. So kontrollsüchtig bin ich geworden. Ich möchte meine Gefühle um jeden Preis vermeiden. Mal wieder begebe ich mich an diesem Abend nachdenklich zu einer Bar. Ich treffe mich dort oft mit Freunden, um ein wenig Spaß zu haben. Doch heute bin ich alleine hier. Seit meiner Trennung mit Leyla bin ich wieder zu einem Einzelgänger geworden. Ich lebe alleine in einem Anwesen, welches ich mir gekauft habe und habe auch wieder mit meinem Gangsterleben begonnen. Ich habe mir mein damaliges Leben irgendwie wieder aufgebaut. Während alle mein Comeback fröhlich feierten, war ich neben der Spur gewesen und fühle mich bis heute leer. Aber mit diesem Gefühl muss ich eben nun mal zurecht kommen. Ob ich will oder nicht. Denn so werde ich nun für den Rest meines Lebens leben. Ich wohne nun alleine, da ich nicht länger bei meinen Eltern leben wollte. Schließlich bin ich ein erwachsener Mann und sie hatten es akzeptiert. Das Alleinsein hat mich stärker gemacht. Jedoch macht es mir auch zu schaffen. Die Trostlosigkeit und diese Leere versuche ich jeden Tag aufs Neue zu ignorieren und konzentriere mich lieber auf die Arbeit oder einfach auf mein Vergnügen. Auch wenn man das nicht Vergnügen nennen kann, da ich den Spaß am Leben verloren habe. Natürlich fehlt mir Leyla und ich würde gerne wieder zu ihr zurückkehren. Doch es gibt leider kein Zurück mehr. Ich kann es nicht. Wegen etwas Bestimmtem bin ich nicht mehr fähig dazu. In jener Nacht haben Mert und ich uns nämlich getroffen.

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